Der Plan des Chaos
Michael Crichton öffnet wieder seinen Dino Park
MICHAEL CRICHTON: The Lost World – Vergessene Welt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr. Droemer Knaur Verlag, München 1996. 464 Seiten, 45 Mark.
Wenn man der Evolutionstheorie glaubt, sagt Michael Crichton, dann sei die ganze wunderbare Komplexität des Lebens nichts als eine Anhäufung von Zufällen: „Aber wenn man sich die Tierwelt genau ansieht, zeigt es sich, daß viele Elemente sich gegenseitig entwickelt haben müssen.“ Als Beispiel zählt er all die Entwicklungsschritte auf, die nötig sind, damit eine Fledermaus im Dunkeln sehen und jagen kann. Und dann folgt der schönste, weil anschaulichste Satz des Buches: ‚Sich vorzustellen, daß dies alles durch Zufall passiert, ist so, als würde man sich vorstellen, daß ein Wirbelsturm über einen Schrottplatz hinwegfegt und die Einzelteile zu einer funktionierenden Boeing 747 zusammensetzt.‘
Das wahre Abenteuer beschränkt sich auch diesmal bei Michael Crichton nicht nur darauf, daß die Spannung bis zuletzt aufrecht erhalten wird, sondern es speist sich auch aus seinem Talent, komplexe Themen anschaulich darzustellen. Wo sonst die Hintergrundinformationen eher ein notwendiges Übel des Erzählens sind, hat man bei ihm immer eher den ungekehrten Eindruck: Daß die atemberaubende Geschichte sozusagen ein Abfallprodukt der wissenschaftlichen Theorien ist, die Crichton ausbreitet. Er betreibt die Geburt des Romans aus dem Geist des Sachbuchs. Oder umgekehrt.
Nach „Jurassic Park“ hat man Crichton vorgeworfen, sein Buch sei ein Plagiat von Sir Arthur Conan Doyles Roman „The Lost World“. Als wollte er die Unsinnigkeit dieses Vorwurfs bloßstellen, hat er nun die Fortsetzung gleich genauso genannt: The Lost World. Und man kann als ziemlich sicher annehmen, daß auch die Idee für diese Fortsetzung aus der Kritik am ersten Teil entstanden ist. Crichton mache es sich zu einfach, hatte es damals geheißen, wenn er glaube, man könne aus DNS so reibungslos Saurier züchten. Seine Antwort ist ziemlich elegant: Was es in Dino Park in den Labors zu sehen gab, war nur eine Show für Touristen. Die wahre Brutanlage befand sich auf einer Nachbarinsel, wo unter Ausschluß der Öffentlichkeit gearbeitet wurde. Nur so konnten all die genetischen Unfälle, zu der es bei der Züchtung von Sauriern kommen muß, geheim gehalten werden. Diese Insel, von der damals nicht die Rede war, hat Crichton nun zum Schauplatz der Fortsetzung gemacht.
Gleich auf den ersten beiden Seiten findet sich eine Landkarte dieser Isla Sorna vor der puertoricanischen Küste. Eine von Klippen abgeschottete Insel ist da zu sehen, auf der die offenbar entscheidenden Schauplätze verzeichnet sind: ‚Hier kommt Dodgson an‘, heißt es da. Oder: „Hier klettern Levine und Diego hoch.“ Aber auch einfachere Kennzeichnungen wie Laborkomplex oder Hochstand oder Raptorennest. Und man sieht auch, daß eine gekreuzelte Linie vom Tyrannosauriernest an Gebäuden vorbeiführt, die als Arbeitersiedlung bezeichnet werden. Sozusagen ein erster Hinweis, auf die Schrecken, die den Leser erwarten. So wird der Imagination eine Bühne geschaffen, auf der jeder seinen Vorstellungen freien Lauf lassen kann, ehe Crichtons Hauptdarsteller sie betreten.
Schon der erste Teil war im Hinblick auf eine Verfilmung geschrieben worden. Nachdem sich JURASSIC PARK als erfolgreichster Film aller Zeiten erwiesen hatte, war klar, daß es eine Fortsetzung geben mußte. THE LOST WORLD hat alles, was schon den Vorgänger auszeichnete – dieselben Qualitäten und dieselben Schwächen. Vieles scheint von den Bedürfnissen des Kinos diktiert: die schematische Aufteilung in Helden und Bösewichter, die mitunter stereotype Aneinanderreihung von lebensbedrohlichen Situationen und vor allem die Anwesenheit zweier neunmalkluger, nervtötender Kinder als Identifikationsangebot für das überwiegend junge Kinopublikum. Aber auch da, wo der Erfolg seinen Tribut fordert, bleibt der Roman unwiderstehlich.
Zum Beispiel findet sich auf den Seiten 256 ff. die faszinierendste Schilderung der Entstehung unserer Spezies, die es diesseits wissenschaftlicher Literatur je zu lesen gab. Und das ist mehr, als man von Bestsellern in der Regel erwarten darf.