Schatten über dem Weißen Haus
Oliver Stones kontroverser NIXON-Film zeigt die innere Zerrissenheit des Watergate-Präsidenten
Das Ende ist nah. Wie ein angeschlagener Boxer schleppt sich der Präsident durch die nächtlichen Flure des Weißen Hauses, bis er vor einem Ölbildnis seines einstigen Gegners John F. Kennedy steht. Und dort sagt er jenen Satz, der diesen Film und vielleicht auch diese Person im Innersten antreibt: „Wenn sie dich ansehen, sehen sie, wie sie gerne sein möchten. Wenn sie mich sehen, sehen sie, wie sie sind.“
Damit ist Regisseur Oliver Stone wieder bei der Erkenntnis, die ihn seit PLATOON verfolgt: daß zwei Seelen in der Brust eines jeden Amerikaners wohnen. Aber diesmal verläßt er sich nicht auf die einfache Schwarzweißmalerei, sondern zeichnet Nixon als einen Mann, der sich seiner Widersprüche bewußt ist, der seine Dämonen kennt und am Ende von ihnen eingeholt wird.
Hallo, Mr. President: Stone nimmt den Präsidenten unter die Lupe und entdeckt dabei den Menschen. Nixons Hinterbliebene und Nachlaßverwalter waren erwartungsgemäß erbost und bezichtigten ihn des Rufmords und der Geschichtsklitterung. Dabei läßt Stone seinem einstigen Feindbild mehr Gerechtigkeit widerfahren, als man je von ihm erwarten konnte.
Schließlich betreibt der streitbare Regisseur seit Anbeginn seiner Karriere eine Kolonisation der kollektiven Erinnerungen des Landes. Er besetzt alle wichtigen Stationen mit seiner Lesart der amerikanischen Geschichte, wonach die Unschuld dieser Nation immer wieder mutwillig zur Schlachtbank geführt wurde. Und Nixon war in diesem Szenario immer nur „Tricky Dick“, dem im Kampf um die Macht jedes Mittel recht war.
Fairplay: In NIXON zeichnet Stone jedoch das Porträt eines Mannes, der von Anfang an keine Wahl hatte, der schnell erkannte, daß ihm im Leben nichts geschenkt wird. Er hatte weder die Ausstrahlung noch die Mittel seiner Gegner, und die Anstrengung, die es ihn kostete, diesen Unterschied wettzumachen, war ihm stets anzusehen.
Über Leichen: Womöglich hat alles mit dem Tod seiner Brüder angefangen, mutmaßt Stone. Erst dadurch konnte Nixon, Kind einer armen südkalifornischen Quäker-Familie, überhaupt aufs College gehen. „Leichen haben meinen Weg gepflastert“, sagt er einmal, „Vietnam, die Kennedys. Der Tod hat mir den Weg zur Präsidentschaft geebnet.“ Da sitzt er kurz vor seinem Ende am Kamin, trinkt und lauscht den Mitschnitten aus dem Oval Office, die ihn wie Stimmen aus dem Jenseits verfolgen. Ein Getriebener, ein Gefangener, ein Gefallener.
Die „Daily News“ hat geschrieben, NIXON verhalte sich zur traditionellen Filmbiografie wie LSD zu Aspirin. Stone hat das ganze Feuerwerk des modernen Filmemachens gezündet und sich künstlerische Freiheiten herausgenommen. Aber gerade die harten, gesicherten Fakten wirken manchmal wie schlechte Erfindungen: Nixons spontane Begegnung mit Kriegsgegnern; seine Jagd auf den vermeintlichen Spion Alger Hiss; vor allem aber jener drittklassige Einbruch im Watergate-Hotel, der sein Reich zum Einsturz brachte. Einem Autor hätte man das nie abgenommen.
Der Hauptdarsteller Anthony Hopkins fügte hinzu, dies sei keine Dokumentation, sondern das Drama eines Lebens: „Als solches steht und fällt es.“ Seine Bescheidenheit verbietet Hopkins natürlich zu sagen, daß der Film vor allem mit ihm selbst steht und fällt. Ursprünglich standen Tom Hanks und Jack Nicholson auf Stones Wunschliste, aber dann hat er sich für den Waliser entschieden, der weder das Aussehen noch den Akzent besitzt, die diese Rolle erfordert. Aber schon nach wenigen Szenen ist die Wandlung vollzogen: Man vergißt Hopkins und denkt nur noch an Nixon. Das ist die Magie eines großen Künstlers, der sich auch deshalb voll entfalten kann, weil die Nebenrollen exzellent besetzt sind.
NIXON hält den Amerikanern einen Spiegel vor. Es hat vielen nicht gefallen, was sie darin erkannt haben – aber wenn man sieht, auf welche Weise sich HALLO, MR. PRESIDENT oder APOLLO 13 ihren Reim auf die amerikanische Nation machen, dann kann man Oliver Stones Leistung gar nicht hoch genug einschätzen.