03. Dezember 1992 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Das Stachelschwein und Darüber reden

Das gefährliche Spiel von Macht und Liebe

Zwei Romane von Julian Barnes: "Das Stachelschwein" und "Darüber reden"

JULIAN BARNES: Darüber reden. Aus dem Englischen von Gertraude Kroeger. Haffmans Verlag. 274 Seiten, 36 Mark.

JULIAN BARNES: Das Stachelschwein. Aus dem Englischen von Stefan Howald und Ingrid Heinrich-Jost. Haffmans Verlag. 160 Seiten, 32 Mark.

Eine schweigsame Gesellschaft hat sich im Niemandsland zusammengefunden: Lenin, Stalin, Breschnew. Auf dem Brachland hinter dem Rangierbahnhof stehen ihre monumentalen Statuen, die man von den Sockeln der Stadt geholt hat. Unkraut rankt sich an ihren Beinen hoch, und ihre Leiber sind mit Stacheldraht umwickelt. Wie eine Armee der Schatten wirken sie, ein Heer von Untoten, abgestellt im Fundus der Geschichte und „unbesiegt wie die Erinnerung“.

1990 war der Engländer Julian Barnes einige Monate in Bulgarien, hat sich über die Revolution informiert und in den Prozeß gegen den ehemaligen Parteiführer Todor Schiwkow eingearbeitet. Aus seinen Recherchen wurde erst eine Reihe von Reportagen, dann der Roman „Das Stachelschwein“. Hierzulande hat man allen Ernstes behauptet, es handle sich dabei nicht um Literatur – als gehe diese an einer zu hohen Dosis Realität unweigerlich zugrunde.

Allein schon die Schilderung des ausrangierten Monumentalfigurenkabinetts spricht eine andere Sprache. In dieser steinernen Runde verdichtet Barnes die osteuropäische Realität zu einer gespenstischen Szenerie, der die Dämonen der Vergangenheit nicht auszutreiben sind. Überwuchert, umzäunt und unbeachtet stehen sie da, und doch wirkt es, als warteten sie hier in den Kulissen der Gegenwart schon auf ihren nächsten Auftritt. Denkmäler sind geduldig.

Von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit handeln beide neuen Bücher von Julian Barnes, vom Umgang der Nachfolger mit den Vorgängern. In „Das Stachelschwein“ wird einem gestürzten Präsidenten der Prozeß gemacht, in ‚Darüber reden‘ ein Ehebruch rekapituliert, bei dem ein Mann seinem besten Freund die Frau ausgespannt hat. An die Stelle der alten Ordnungen sind neue getreten, die sogleich zur Abrechnung schreiten, um sich zu legitimieren und ihrer selbst zu versichern. Aber sobald die Vergangenheit dingfest gemacht und festgeschrieben werden soll, wie es wirklich war, verflüchtigen sich alle Gewißheiten.

Mit einer Anekdote bringt Barnes in ‚Darüber reden‘ auf dem Punkt, worum es ihm geht: Als man Tschu-en-lai gefragt hat, welche Auswirkungen die Französische Revolution seiner Meinung nach auf die Weltgeschichte habe, soll er geantwortet haben: „Das kann man jetzt noch nicht sagen.“

Geschichte und Geschichten kennen bei Barnes kein Ende, und was sich über sie sagen läßt, ist immer vorläufig. Von dieser Einsicht ist sein Schreiben geprägt: Virtuos jongliert der Engländer mit immer neuen Genres und Tonfällen und treibt sein Spiel mit den Formen sogar so weit, daß er sich ein Pseudonym zugelegt hat, unter dem er Kriminalromane veröffentlicht. Diese geradezu enzyklopädische Lust an erzählerischer Mimikry mag daher rühren, daß er in den frühen Siebzigern als Lexikograph beim Oxford English Dictionary für die Stichworte Sport und Obszönitäten zuständig war. Das habe ihn, sagte er später, weniger beckmesserisch im Umgang mit der Sprache gemacht.

„Darüber reden“ trägt der Vorläufigkeit aller Geschichten Rechnung: Die Hauptdarsteller in dieser Ehebruchsgeschichte diktieren einem unsichtbaren Interviewer ihre Geschichte direkt aufs Band. Reihum tragen sie ihre Sicht der Dinge vor, reagieren auf Vorwürfe oder nehmen Einwände vorweg. Ihre Aussagen ergänzen oder relativieren einander, und jede der Figuren wird dadurch von mindestens drei Seiten beleuchtet. Und je enger sie dieses seltsame Phänomen Liebe einkreisen wollen, desto flüchtiger wird es. Am Ende ist es, was es immer war: eine Illusion.

Barnes‘ Helden reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und denken auch so: Pedantisch wie Stuart, nüchtern wie Gillian, geschwollen wie Oliver. Oder haßerfüllt und hämisch wie Stojo Petkanow, Staatsoberhaupt und KP-Chef jenes ungenannten osteuropäischen Staates, der in „Das Stachelschwein“ zur Parabel für alle Länder dieser Prägung und ihre jüngere Geschichte wird. Im Grunde führt gerade er sich auf wie ein betrogener Ehemann, während die Helden im anderen Roman mitunter so teilnahmslos wie Politiker daherreden: ‚Liebe steigt und fällt im Wert wie jede andere Währung‘.

Im sechsten Stock des ehemaligen Gebäudes der Staatssicherheit hat man Petkanow unter Arrest gestellt. Wie jeder andere Bürger auch bekommt er Rationierungsmarken zugeteilt: Ein Laib Brot, Butter, Kohl, zwei Hackfleischbällchen, weißer und gelber Käse, Speiseöl, Waschpulver und Mehl – eine Wochenration. Doch schon dieser erste Versuch der Demütigung schlägt fehl: Petkanow ißt alles auf einmal und läßt dem Generalstaatsanwalt Solinski ausrichten, wenn er ihn den Rest der Woche Waschpulver essen lassen wolle, habe er persönlich die Verantwortung dafür zu tragen. Und er fügt hinzu, zu seiner Zeit habe es zwar Schlangen vor den Läden gegeben, aber dafür auch Lebensmittel. So wird es bleiben: Petkanow ist nicht zu fassen.

Sein Gegenspieler Solinski, der die undankbare Aufgabe hat, Petkanow den Prozeß zu machen, ist am Verzweifeln: „Es war, wie wenn man einen Schwamm ausdrückt: Meistens war der Schwamm trocken, aber wenn er es einmal nicht war, rann das Wasser geradewegs durch die Finger.“ Abgesehen von der prägnanten Parabel, in der auf ungeheuer anschauliche Weise die Problematik solcher Abrechnungen gebündelt wird, liegt in diesem Zitat das ganze Abenteuer des Buchs: Wie sich eine Person hinter dem Bild, das sie von sich selbst entwirft, und dem, was sich die anderen von ihr machen, verflüchtigt. Und Petkanow weiß nur zu gut, wovon er spricht, wenn er die Ermordung Ceaucescus in einem besonderen Licht betrachtet: „Sie hatten ihn erschossen, Nicolae und Elena, einfach so. Nagel den Vampir fest, hatte einer gesagt, nagel den Vampir fest, bevor die Sonne untergeht und er wieder fliegen kann. Das war es gewesen, Angst.“

Selten wurde der irrationale Aspekt dieses Tyrannenmordes so treffend beschrieben, und der Prozeß gegen Petkanow führt vor, warum diesem Problem mit Vernunft kaum beizukommen ist. Der Tyrann verschwindet hinter dem System, in dem sich die Schuld millionenfach verteilt. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo jeder einzelne bereits durch seine pure Existenz dem System zuarbeitet, und jedes Schweigen dann schon einem Mord gleichkommt. Das ist der Moment, an dem Vernunft und Moral den Geist aufgeben. Die eigene Schuld wird einem Dämon in die Schuhe geschoben, und der läßt sich leichter durch Exorzismus aus der Welt schaffen als durch einen Prozeß: Nagel den Vampir fest.

Solinski hat eigentlich keine Chance. Akten sind verschwunden, Belege vernichtet, Spuren verwischt. Er steht einem Phantom gegenüber: „Charakter“, vielleicht war das sein Fehler, sein…ja, sein bürgerlich-liberaler Irrtum. Die naive Hoffnung, Petkanow „kennenzulernen“. Der starke, aber unsinnige Glaube, daß sich der Charakter eines Individuums in dessen Ausübung der Macht spiegelt und daß das Studium des Charakters deshalb nötig und lohnenswert sei…

Aber der Versuch, Petkanow als ein bösartiges Geschwirr von Elektronen zu sehen, die um ein monströses Vakuum kreisten, hielt sich in dessen Gegenwart keine zwei Minuten.‘ Der Versuch scheitert vor allem deswegen, weil Solinski im Gegensatz zu seinem Gegenüber kein Unmensch ist. Weil er an das Individuum und seine Verantwortung glaubt und daran, daß jede Wirkung eine Ursache hat. Aber das hilft ihm nichts: Er, der so begierig auf eine neue Sprache und eine neue Identität war, rettet sich aus Beweisnot in einen Schauprozeß und muß diesselben Methoden und Floskeln benutzen, um der Vergangenheit Herr zu werden.

Um Identitätskrisen aller Art geht es bei Barnes und darum, was das eigentlich ist: Identität? Er untersucht das hier anhand eines Landes und seines Führers und dort anhand einer Liebe und ihrer Protagonisten. „Ich bin Stojo Petkanow“, beginnt der Führer seine Verteidigung und zählt dann eine Stunde lang seine Orden und Belobigungen durch die Großen der Welt auf – und es ist gut möglich, daß es sich dabei um die tatsächlichen Auszeichnungen von seinem Vorbild Schiwkow handelt. Das entspräche durchaus dem ganz normalen Wahnsinn der Weltpolitik. Ich bin Stojo Petkanow: Das ist nach Lage der Dinge die dreisteste Lüge von allen. Er hat sie auch bitter nötig, denn sogar er selbst stellt sich als reine Projektion dar, umstellt sich mit den Aussagen anderer wie mit Spiegeln. Aber deren Bild bleibt leer, sie bespiegeln nur sich selbst. Daß Barnes über Seiten im Wortlaut zitiert, zeigt, wie sehr ihn dieses Phänomen einer ganz und gar phantomhaften Existenz fasziniert.

Von der Peripherie aufs Zentrum schließen, war schon in „Flauberts Papagei“ die bevorzugte Methode: Was sagt ein ausgestopfter Papagei (oder zwei) über den Schriftsteller, der ihn vor Jahrhunderten beim Schreiben anstarrte? Am anschaulichsten schildert Barnes seine Arbeit und Absichten in „Darüber reden“, wo Oliver die Restauratorin Gillian fragt, woran sie merke, wann sie mit einem Bild fertig ist, und sie antwortet: „Man geht zwangsläufig ein kleines bißchen zu weit oder nicht weit genug. Es gibt keine Möglichkeit, es genau zu wissen…es ist eher eine künstlerische als eine wissenschaftliche Entscheidung, wann man aufhört. Es ist etwas, das man im Gefühl hat. Es gibt kein „wahres“ Bild da unten, das auf seine Entdeckung wartet, wenn du das meinst.“ Schöner läßt sich nicht beschreiben, was Identität ist: Es gibt kein wahres Bild, es ist etwas, das man im Gefühl hat. Und doch fragt sich diesselbe Gillian: „Was für ein Ich verliebt sich erst in Stuart und dann in Oliver? Dasselbe, ein anderes?“

Gerade in der Art, wie sich die beiden Bücher ergänzen und gegenseitig Fragen stellen, beweist sich Barnes als der Künstler, den man in ihm bei uns offenbar nicht sehen will. Die Vielfältigkeit seines Talents mag manchmal fast unheimlich wirken, sie beweist vor allem, daß da jemand ist, der sich mit den Erscheinungsformen der heutigen Welt auseinandersetzt und dafür auch eine Sprache findet, die witzig und präzise, poetisch und verständlich ist.
Julian Barnes stellt die richtigen Fragen und manchmal weiß er sogar Antworten darauf. So läßt er zum Beispiel Oliver angesichts der Frau seines Freundes eine schöne Utopie entwerfen: „Das aktuelle Zauberwort heißt Reversibilität. Das bedeutet, die Restauratorin soll stets nur das tun, von dem sie weiß, daß es später von anderen ungetan gemacht werden kann. Sie muß sich eingestehen, daß ihre Gewißheiten nur vorübergehender Art sind, ihre Endgültigkeiten provisorisch.“ Und trotzdem, das sagt alles über Barnes, macht Oliver im Anschluß an diese Ausführung etwas Irreversibles: „Als sie meinte, es sei Zeit zu gehen, hab ich ihr gesagt, daß ich sie liebe.“

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