Es sei Krieg gewesen
Peter Handke setzt seine Dichter-Reise über die Drina fort
Im Dezember letzten Jahres hat Peter Handke eine „winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Sawe, Morawa und Drina“ unternommen und „Gerechtigkeit für Serbien“ gefordert. Nun hat er einen sommerlichen Nachtrag geschrieben, in dem er von einer zweiten Reise über die Drina hinaus nach Visegrad und Srebrenica berichtet (Suhrkamp Verlag. 92 Seiten. 24,80 Mark). Beim ersten Mal hatte er sich noch gefragt, ob „ein derartiges Aufschreiben nicht obszön ist, sogar verpönt, verboten gehört“. Diesen Zweifeln hat er sein dichterisches Programm entgegengesetzt, bei dem er lieber „bestimmte Nebensachen“ als „die bösen Fakten“ festhalten wollte.
Die bösen Fakten interessieren ihn auch diesmal nicht: Die sind Sache von „Journalisten, die Schriftsteller spielen, am liebsten einen zweiten Albert Camus“, von „Aussagensammlern, den es ausschließlich um ihre Story, ihren Scoop, ihr Beutemachen, ihr Verkaufbares ging“. Er ist aus auf „ein Auffächern von erst einmal unverdächtigen, auch unverdächtigten Einzelerscheinungen, auf ein Zwischenraumschaffen“. Sein Programm auch hier: „Nur kein Ausfragen, nur kein Datenerforschen, nur kein Sich-hinein-Drängen in etwas, was ohnedies und offenbar zum Himmel oder sonstwohin stieg“. Dann ertappt er sich jedoch dabei, daß er in der Regel derjenige ist, „der alles Fragen übernahm“. Denkt aber dann wieder, ‚daß allein die Stummheit, die wortlosen Haltungen und die stummen Dinge, das Beiwerk, zu uns hätten sprechen sollen‘.
So durchmißt Handke Bosnien, findet „Farnvordringlichkeit“ und „Schwalbenknickflüge“ und gibt sich nach Möglichkeit ganz dem Gesang der stummen Dinge hin. Eine Menschenscheu findet man dabei am Werk, die es am liebsten hat, wenn die Wirklichkeit zum Stilleben gerinnt. Als sei allem, was sich dem Blick des Dichters nicht von sich aus darbietet, zu mißtrauen. Den Menschen sowieso – aber im Grunde auch dem Leben selbst. Dennoch scheint ihn ein eigentümlicher Stolz zu erfüllen, wenn er in einer Runde aufgenommen wird, mitfragen, -reden, -trinken darf. Wie ein Kind, das überrascht ist, daß die Erwachsenen das Wort an es richten. Wie ein Autist, der erstaunt feststellt, daß es noch eine Welt außerhalb seines Blicks gibt.
Wenn man so will, ist diese Art Autismus keine schlechte Voraussetzung für einen Dichter. Sie ermöglicht eine Wahrnehmung, die nicht den üblichen Hierarchien folgt. Das wäre in der Tat eine Tugend nach einem Krieg, vom dem sich zu viele Leute zu viele Bilder gemacht haben. Und in dem diese Bilder nicht unbedingt den Gesetzen der Gerechtigkeit oder Menschlichkeit gehorchten, sondern auch denen von Verkäuflichkeit und Parteilichkeit. Bilder sind nie unschuldig, und Nachrichtenbilder schon gar nicht, aber zu behaupten, es habe unter den Berichterstattern keinen einzigen gegeben, der „auf etwas anderes als den gedächtnislosen Moloch Aktualität ausgewesen“ sei, ist einfach dreist.
Gedächtnislosigkeit müßte man eher Handke vorwerfen: Der Dichter beschreibt nur, was er sieht, und was er nicht sieht, will er auch nicht wissen. Das führt dazu, daß er die Vernichtung der Muslime in Ostbosnien relativiert, das Massaker von Visegrad in Zweifel zieht und vom „mutmaßlichen Genozid“ in Srebrenica redet. Und selbst wenn er recht hätte, müßte man ihm vorhalten, daß er das Recht immer nur für dieselbe Seite einfordert. Subjektivität ist immer eine Form der Blindheit – und die ist bei einem Dichter nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Keiner verlangt schließlich, daß er dem Volk nach dem Munde spricht. Aber manchmal wirkt er wie ein trotziges Kind, das die Augen verschließt vor dem, was es nicht sehen will.
Unwillkürlich fragt man sich, wie seine Schilderungen des Nachkriegsdeutschland ausgesehen hätten: millionenfaches, mitfühlend dargebotenes Leid und die Toten stumm? Sein an sich verständlicher Widerwillen gegen die weltweiten Schuldzuweisungen treibt ihn am Ende dazu, das Leid der Überlebenden gegen das Schweigen der Toten auszuspielen. Da trifft er dann in Srebrenica einen gastfreundlichen schweigsamen Mann, der „als vermutlicher Verbrecher auf der Liste des internationalen Gerichtshofs“ stehen soll und auf die Frage nach dem Warum nur sagt: „Es sei Krieg gewesen“. Auch hier zeigt sich Handke eher verblüfft von der Wirklichkeit, läßt aber im nächsten Moment eine so martialische Beschreibung der „internationalen Friedensvertragsdurchführungstruppe“ folgen, die nicht anders denn als Parteinahme zu lesen ist.
Die anderen, die Reporter, sind für ihn nur „miesliterarisch“, wenn ihre Texte oder Bilder plakativ werden, Effekte erzeugen. Anders kann er sich das gar nicht vorstellen: wie der seiner Meinung nach malerisch hindrapierte Totenschädel auf einer der „mutmaßlichen Massakerstätten“, angepeilt „von einem gut gewählten Kamerahochsitz, desgleichen kadriert und noch trefflicher ausgeleuchtet, hochglanzbereit und farbraffiniert für den vom Interplanetarischen Photographenverband allsonntäglich verliehenen Goya-, Wurlitzer-, oder Bilder-ohne-Grenzen-Preis.“ Im ersten Teil hat er noch davon geredet, das Poetische müsse das Gegenteil des Nebulösen sein. Statt dessen entwirft er nun, wo es nur geht, Bilder einer Weltverschwörung gegen Serbien. Als wären es nicht gerade solche Theorien, aus denen sich Nationalwahn nährt.
Er hingegen erlebt in Srebrenica – das er immer nur S. nennt – ein Bilderverbot, das indes Raum läßt „für noch und noch Miniaturen“, und aus der Verknüpfung dieser Kleinstbilder verspricht er sich eine ‚im ganzen vielleicht doch das eine und das andere besagende‘ Arabeske. Natürlich ist Peter Handke ein Meister der Miniatur, aber von einem der großen Dichter unserer Sprache darf man schon verlangen, daß bei der Verknüpfung mehr herauskommt als nur Arabesken. Das nennt man Verantwortung.
Einen der beiden Vorsprüche zu dieser Reise hat Handke einem mittelalterlichen Epos entnommen: „Es war im Sommer, und die Morgenstunde war schön, und die Bäume waren grün, und die Wiesen waren bedeckt mit Gras und Blumen.“ So kann man es natürlich auch sehen.