01. Februar 1997 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Porträt | Das schwarze Manifest

Wer möchte, daß ihm Leser über Hunderte von Seiten folgen, der sollte sich einen guten ersten Satz einfallen lassen. Und auch wenn sich Frederick Forsyth gerne als einfacher Handwerker gibt, der lediglich sein Geschäft beherrscht, so denkt doch auch er lange, bevor er sich ans Schreiben macht, über seinen ersten Satz nach. Ob beim Spazierengehen, Schwimmen oder Angeln, stets arbeitet es in ihm: „Vielleicht das Wetter: Es regnete? Nein. Die Sonne schien? Nein. Etwa zwei bis drei Monate, bevor ich mich hinsetzte, wußte ich es dann. Es war der Sommer, in dem der Preis für einen kleinen Brotlaib auf über eine Million Rubel stieg. Da ist alles drin. Erstens: Rußland. Zweitens: Armut. Drittens: Inflation. Alles in einem Satz.“

Es steckt natürlich noch mehr in diesem Satz als nur die reine Information: dieser gnadenlose Blick aus großer Höhe, der schon zu Geschichte macht, was noch Zukunft ist; eine Lust am Mißverhältnis zwischen der abstrakt großen Zahl und einer so konkreten Kleinigkeit wie einem Laib Brot; und das Versprechen, man werde bald erfahren, wie es soweit kommen konnte und welche weiteren Konsequenzen das sonst noch hat. Der Satz birgt ein Geheimnis, dem man auf die Spur kommen möchte. So wie der Einstieg in seinen letzten Roman Die Faust Gottes: „Der Mann, der noch zehn Minuten zu leben hatte, lachte.“ Wer da nicht weiterliest, ist selber schuld. Dabei muß man auf die Beantwortung der Fragen, die diese ersten Sätze aufwerfen, nicht unbedingt lange warten. Frederick Forsyth ist kein Mann, der seine Leser durch Rätsel fesselt, eher im Gegenteil.

Schon in seinem ersten und immer noch besten Roman war der Ausgang von Anfang an klar. Im Jahr 1970 wußte man, daß das fiktive Attentat auf de Gaulle im Jahre 1963, von dessen minuziöser Planung Der Schakal erzählt, mißlingen würde – schließlich lebte der General noch. Die Frage war also nur, wie nah würde der Attentäter seinem Opfer kommen – und wie würde er das bewerkstelligen. Wobei eben ein besonderer Reiz in der Art bestand, wie die Fiktion in die Fakten eingebettet wurde. Und wenn dann am Ende die Kugel nur um Millimeter am Kopf des Präsidenten vorbeisaust, dann hat man fast den Eindruck, daß um ein Haar die Phantasie eines Schriftstellers den Lauf der Welt verändert hätte, weil sich Erfindung und Wirklichkeit auf so atemberaubende Weise beinahe berührt haben.

Daß der Abstand zwischen den Romanen und der Realität kaum mehr als ein paar Millimeter beträgt, wurde spätestens klar, als unlängst die Existenz des Nazi- Goldschatzes auf Schweizer Banken bestätigt wurde, um den es schon 25 Jahre vorher in Forsyths „Akte Odessa“ gegangen war. Und so schlug der Brite in einem Roman nach dem anderen wie ein Bergsteiger seine Haken in die Geschichte der Gegenwart, um sich daran in immer düsterere Tiefen abzuseilen: „Die Hunde des Krieges“, „Des Teufels Alternative“, „Das vierte Protokoll“, „Der Unterhändler“, „McCreadys Doppelspiel“, „Die Faust Gottes“ und nun „Das schwarze Manifest“, im Original: „Icon“.

Dies soll angeblich der letzte Thriller des Erfolgsautors sein, der fortan mehr literarischen Ambitionen und journalistischem Interesse folgen will. Seine beiden letzten Bücher habe er ohnehin nur geschrieben, weil er Anfang der neunziger Jahre einen beträchtlichen Teil seines Vermögens bei einem Anlage-Schwindel verloren hat. Mit dem Vorschuß von fünf Millionen Pfund dürfte er nun allerdings aus dem Gröbsten heraus sein und könnte sich mit seinen 58 Jahren tatsächlich anderen Dingen zuwenden. Höchste Zeit also, mal nachzufragen, wie man das eigentlich macht: einen Thriller schreiben? Und da trifft es sich ganz gut, daß Forsyth gerade von seinem Verlag herumgereicht wird, um dem Schwarzen Manifest in Deutschland auf die Sprünge zu helfen.
Frederick Forsyth spricht mit einer Unbefangenheit Deutsch, die auf viel Übung, ziemliche Weltläufigkeit und ein wenig Eitelkeit schließen läßt. Er hat es bereits in der Schule gelernt und war 1963 nach einem Jahr in Paris zwei Jahre lang Leiter des Ostberliner Büros der Nachrichtenagentur Reuter gewesen. Danach ging er zur BBC, für die er auch als Korrespondent in Afrika tätig war. Er ist jedenfalls ein Mann ohne Allüren, der im Schreiben nicht unbedingt seinen Lebenszweck sieht. Davor bewahren ihn unter anderem die 400 Schafe, die er mit Hilfe eines Hirten auf seinem fast 300 Jahre alten Anwesen vierzig Kilometer nördlich von London hält und die ihn just zu dieser Jahreszeit auf Trab halten, weil sie gerade ihren Nachwuchs zur Welt bringen. Das Blöken der Lämmer ist ihm allemal näher als das Schweigen der Schreibstube. Was also mußte alles passieren, ehe er sich hinsetzen und schreiben konnte: „Es war der Sommer, in dem der Preis für einen kleinen Brotlaib auf über eine Million Rubel stieg?“

Es fing alles 1993 an, als Boris Jelzin auf dem Flug von New York nach Moskau im irischen Shannon zwischenlandete. Das ganze irische Kabinett war zur Begrüßung angetreten, aber Jelzin blieb im Flugzeug, weil er, wie es hieß, schlief. Das verstimmte Kabinett mußte unverrichteter Dinge wieder nach Dublin zurück. „Ich habe mit einem Mann gesprochen, der sagte: „Er ist dauernd besoffen. Er kann nicht gerade gehen. Das Herz und die Leber werden nicht mehr lange mitmachen.“ Da habe ich mich gefragt, was eigentlich passiert, wenn Jelzin abtritt? Ich habe auch Diplomaten, Ex-Botschafter und Historiker gefragt, und erstaunlicherweise hatte keiner eine Idee.“ Mit dieser Frage ging es also los.

Dann las Forsyth etwas über Schirinowski, „diesen wahnsinnigen, besoffenen ultrarechten Clown“, und die Aussichten, er könnte bei den Wahlen dreißig Prozent der Stimmen erhalten. ‚Da gab es also 70 Jahre lang den Kommunismus – und nach nur drei Jahren war eine ultrarechte Bewegung und eine landesweite Mafia entstanden.‘ Also beschäftigte er sich mit der Mafia und stellte fest, daß es die Mafia auch im Kommunismus gegeben hatte, mehr noch, daß sie in der letzten Dekade die einzige Organisation gewesen ist, die effektiv arbeiten konnte. ‚Ohne die Mafia wäre der Kommunismus wahrscheinlich sogar zehn Jahre früher zusammengebrochen. Zusammen ergab das alles eine Möglichkeit, aber noch keine Story.‘ Seine Arbeitshypothese lautete fortan: Ist es möglich, daß bei der Wahl 2000 ein neuer Führer an die Macht kommt, ‚ein charismatischer guter Redner mit geheimen Nazi-Tendenzen, der die zersplitterten Parteien der Rechten einen könnte?‘ Und vor allem: Wäre das plausibel? ‚Ich ging also nach Rußland, und immer kam mir der Vergleich mit den letzten Tagen der Weimarer Republik. Eine demoralisierte Armee, eine Arbeiterschaft ohne Arbeit, eine Mittelklasse ohne Ersparnisse und eine Schicht Ultra-Reicher: Pelze, Diamanten, Parfums, Limousinen. Ich war nicht dabei, aber das klang schon ähnlich. Wenn also einer käme und sagen würde: ,Ich gebe euch die Ehre, die Arbeit und die Ersparnisse zurück.‘ Dann würden sie ihn vielleicht wählen – so wie sie Hitler gewählt haben.‘

Das war die Basis, plausibel, aber noch keine Story, nur eine politische Betrachtung. Also noch eine Frage: Was würde der Westen tun? ‚Antwort: Nichts. Absolut nichts. Wir würden das bedauern, aber mehr nicht. Wenn die Politiker und Geheimdienste nichts tun, dann müßte jemand privat etwas unternehmen. Gibt es solche Fälle? Es gibt die Privatarmeen der Öl-Konzerne und Diamanten-Minen. Und Ross Perot, der mit Söldnern seine Leute aus dem Iran herausgeholt hat. Die Behörden mögen das nicht, aber es kommt vor.‘

Was aber sollte ein einzelner unternehmen? Ein Attentat kam nicht in Frage, das wäre zu einfach und zu schnell für so einen Roman. Also eine Art Verschwörung, eine Allianz gegen den kommenden Diktator, von Gruppierungen, die gute Gründe haben, die Umsetzung des „Schwarzen Manifests“ verhindern zu wollen: ‚Vielleicht das Offizierskorps, vielleicht die Banker, vielleicht die Polizei, womöglich die Kirche, die unter dem Kommunismus fast zerstört, vor allem aber kompromittiert worden ist und nun zusehen muß, wie amerikanische Prediger ins Land strömen.‘

Hitler hatte aus seinen Absichten keinen Hehl gemacht – und Mein Kampf geschrieben. Die Zeiten haben sich geändert, überlegte Forsyth, heutzutage würden solche Pläne geheimgehalten, bis man an die Macht kommt. So entstand das Schwarze Manifest. Aber wie sollte der Westen davon Kenntnis erhalten? Es mußte gestohlen werden. ‚Von wem? Von jemanden, von dem keine Gefahr ausgeht. Eine Putzfrau? Nein. Ein Putzmann. Warum? Er mußte etwas sehen, was ihn entsetzt. Die Ankündigung eines neuen Holocausts. Also konstruierte ich eine Kindheit mit einer jüdischen Ziehmutter, die er sehr geliebt hat. Also nimmt der Putzmann das Schriftstück an sich. Und warum übergibt er es den Briten? Weil er als Soldat mal einem Jeep der Alliierten begegnet ist, die ihm ein Bier ausgegeben haben.‘

Man sieht schon: Wenn man sich der Sache von hinten nähert, gibt es auf jede Frage eine Antwort. Der Held? Ein Ex- CIA-Mann. Warum Ex? Weil er vier seiner russischen Agenten durch einen Verräter in den eigenen Reihen verloren hat. Warum geht er trotzdem? Weil er die Chance hat, die vier zu rächen, indem er ihren Mörder umbringt. ‚Das Manifest muß gestohlen werden, bevor der Held in Aktion tritt. Was also tut er sechs Kapitel lang? Er kann schließlich nicht die ganze Zeit angeln. Also muß ich seinen persönlichen Hintergrund schildern, seine Motive plausibel machen.‘ So kommt es, daß sich der Roman in der ersten Hälfte auf zwei verschiedenen Zeitebenen bewegt: hier die Geschichte des Helden, dort die Entdeckung des Manifests. Wenn die beiden Ebenen sich treffen, kann es losgehen.

Der Rest ist Recherche. Als Forsyth den Hintergrund eines sowjetischen Panzergenerals brauchte, rief er einen Panzeroberst an und fragte nach einem Fachmann für sowjetische Panzer. Er bekam einen Mann genannt, der in Stanford, Connecticut, lebt und sich in diesem Thema besser auskennt als die Russen selbst. Forsyth besuchte die wandelnde Enzyklopädie, beschrieb ihm, was er brauchte, nannte Alter und Stellung, und sein Mann entwarf ihm in vier Stunden eine plausible Karriere, Panzernummern und Kaliber inklusive. „Es gibt immer irgendwo auf der Welt einen Mann, der sein Fach zu seinem Lebensinhalt gemacht hat. In diesem Fall mußte ich 30 bis 40 solcher Spezialisten treffen, denen ich mein Problem schildern konnte, ohne den ganzen Plan preisgeben zu müssen.“

Ein Jahr lang recherchierte Forsyth, dann hatte er alles. Bis dahin existierte der Roman nur in seinem Kopf, der vom Moment des Vertragsabschlusses an von seinem Verlag versichert war, für den Fall, daß ihm vor Lieferung des Manuskripts etwas zustoßen würde. Denn die Verleger wußten nur: Ein Buch über Rußland im Jahre 1999. Ein neuer Adolf Hitler. Zwei Sätze, mehr nicht.

„Ich erreiche den Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht. Dann hole ich tief Luft, mache die Tür zu, setze mich an die Schreibmaschine und lege los.“ Er steht um fünf auf, nimmt eine Thermoskanne Kaffee mit und fängt um sechs an. Er sitzt in einer umgebauten Scheune, fünfzig Meter vom Haupthaus. Tausend Blatt weißes Papier, zehn Farbbänder für seine Silver Reed, eine Reihe Bleistifte und Tipp-Ex. Zu beiden Seiten etwa 40 bis 50 Stapel mit Notizen zu jedem Spezialgebiet, orthodoxe Kirche oder eben sowjetische Panzer. Links eine Checkliste mit den Namen aller Figuren, rechts einen Stadtplan von Moskau. Und dann? ‚Es fließt. Die Worte fließen aus mir. Es müssen jeden Tag zwölf Seiten werden. Das dauert bis halbzwölf, zwölf. Dann gehe ich mit den Hunden spazieren, esse einen Salat und gehe zurück ins Büro, lese und korrigiere, einen Tippfehler hier, ein Adjektiv dort. Dann mache ich eine Kopie für den Fall, daß die Scheune abbrennen sollte. So geht das. Ratatatata. 4000 Wörter am Tag, sieben Tage die Woche, 45 Tage lang: 180 000 Wörter.‘ Dann sagt er sich ‚Gott sei Dank, over‘, geht ins Haupthaus und ruft seiner Frau zu: „Sandy! Finished!“

So einfach ist das. Alle zwei Tage hat er ein Kapitel fertig. Nichts überläßt der Mann dem Zufall: Von der Silver Reed hat er die letzten sechs Exemplare gekauft, als die Firma pleite machte. Er ist bei Nummer zwei angelangt. Die anderen stehen in seiner Scheune. Frederick Forsyth sagt: „Ich brauche etwa alle fünf, sechs Jahre eine neue. Mein Vorrat reicht also schätzungsweise bis zu meinem Lebensende.“ Ratatatata.

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