03. Juni 1996 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Das geheime Abc der Toten

Die Sprache des Todes Patricia Cornwells bemerkenswerte Krimis

Patricia Cornwells bemerkenswerte Krimis

PATRICIA CORNWELL: Das geheime Abc der Toten. Aus dem Englischen von Monika Blaich und Klaus Kamberger. Droemer Knaur. 402 Seiten, 38 Mark.

Alpträume machen immer erst ein freundliches Gesicht, ehe sie ihre Fratze zeigen: Als an einem klaren Oktobermorgen ein alter Mann sich am Ufer des Lake Tomahawk zum Angeln niederlassen wollte, ‚bemerkte er eine kleine pinkfarbene Socke im nahen Gebüsch. Er sah, daß in der Socke ein Fuß steckte.‘
Ein Mädchen ist ermordet worden. Elf Jahre alt. Die Indizien deuten auf einen lange gesuchten Serienmörder hin. Deshalb wird das FBI eingeschaltet und Chief Medical Examiner Kay Scarpetta, die oberste Gerichtspathologin des Staates Virginia, hinzugezogen. Sechs Bücher hat Patricia Cornwell mittlerweile um ihre Heldin geschrieben: Ein Mord für Kay Scarpetta, Herzbube, Mord am Samstagmorgen und Vergebliche Entwarnung gibt es bei Knaur für jeweils 12,90 Mark als Taschenbuch; der neueste Roman From Potter’s Field ist gerade auf Englisch erschienen. Und man kann sagen, daß Kay Scarpetta die interessanteste Detektivfigur ist, die zur Zeit im Kriminalroman unterwegs ist.

Die Pathologie ist immer ein idealer Ort für dieses Genre, weil das Leichenschauhaus eine Art Schleuse zwischen dem Leben und dem Tod ist, ein Schnittpunkt zwischen der Vergangenheit der Opfer und der Gegenwart der Handlung. Was immer die Geschichte der Toten bereithalten mag, auf den Stahltischen der Gerichtsmedizin bleibt davon nur übrig, was sich wiegen und vermessen läßt. Es sind buchstäblich nur Haarspaltereien, die hier stattfinden, aber sie machen einen Großteil der Faszination aus: In diesen Büchern kann man Tote sprechen hören.

Kein Wunder also, daß die Romane ungemein von ihrer Atmosphäre leben und für Stimmungen anfälliger sind als andere. Eine undurchdringliche Melancholie legt sich allerorten über die Erzählung. Die erzwungene Nüchternheit der Heldin vermischt sich mit der allgemeinen Trauer über eine Welt, in der die Toten ihre Geheimnisse im Neonlicht der Pathologie preisgeben müssen.

Das färbt auch auf Dr. Scarpettas Beziehungen ab: zum bulligen Detective Marino, der ihr aller Unarten zum Trotz fast schon ans Herz gewachsen ist; zur Nichte Lucy, mit der sie jene Gefühle verbinden, die sie weder Schwester noch Mutter entgegenbringen kann; oder zu ihrem Geliebten Wesley vom FBI, der zum einen verheiratet ist und zum anderen stets im Schatten ihres verstorbenen Verlobten steht. Das sorgt ständig für Spannung: Wie jemand, der einerseits dauernd mit Extremsituationen konfrontiert ist, andererseits mit den alltäglichsten Beziehungen Probleme hat. Das macht die Romane genauso lebendig wie die dauernde Diskrepanz zwischen dem mikroskopisch genauen Blick der Pathologin und dem Bild einer Frau, die sich fortwährendüber ihre Gefühle klar zu werden versucht.

Ein ungewöhnlicher Fleck auf der Haut des Mädchens; winzige Spuren einer in dieser Gegend unbekannten Pflanze; eine seltene Art von Klebeband: Das sind die Spuren, die in Das geheime Abc der Toten den Weg weisen. Er führt vorbei an einem Ort des Grauens, der dem Buch im Original den Titel gegeben hat: The Body Farm, ein Gelände, auf dem das FBI zahllose Leichen verschiedenen Arten der Verwesung aussetzt, um Erkenntnisse über den Zerfallsprozeß von Leichen zu gewinnen: ‚In den Ohren eines Gerichtsmediziners wie mir klingt das weder gruselig noch abfällig, denn niemand hat mehr Respekt vor den Toten als jemand, der mit ihnen arbeitet, sich ihre stillen Geschichten anhört und versucht, jenes geheime Abc der Toten zu entschlüsseln.‘

Es ist bei Patricia Cornwell so, als befände sich die Welt in einem endlosen Morgengrauen, in dem die Gespenster der Nacht wie Nebel über nassen Wiesen hängen. Immer aufs neue spült das Dunkel der menschlichen Seelen sein Strandgut auf die Seziertische der Heldin. Manchmal – und das ist das Beunruhigendste an diesen Romanen – hat man fast den Eindruck, als liege ein Hauch von Zärtlichkeit über dem Verwesungsgeruch, der die Bücher erfüllt.

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