05. Oktober 1994 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Fleurs de ruine

Spuren in den Tod

Nur für Selbstübersetzer: Modianos bester Roman

PATRICK MODIANO: Fleurs de ruine. Roman. Französisches Original mit einem Nachwort und Lesehilfen von Helga Zoch. Reclam Verlag, Stuttgart 1994. Reclam Fremdsprachentexte. 144 Seiten, 7 Mark.

Ein Buch wie der Herbst selbst, wo im Eindruck des schwindenden Lichts auf einmal Erinnerungen an die Oberfläche treiben, die aus nichts anderem bestehen als aus jener Sehnsucht, sich der Welt zu versichern, ehe sie einem in Kälte und Finsternis entgleitet. Seite um Seite erzählt Modiano von diesen herbstlichen Gefühlen, die sich an alles klammern, als gebe es kein Morgen mehr. Dabei ist es keine Erinnerungsseligkeit, die ihn umtreibt, sondern ein kühler, scharfer Schmerz, der sich über die Gegenwart legt. Das hat kaum jemand klarer und knapper und schöner beschrieben als Modiano in diesem Buch.

Nachdem Suhrkamp es offenbar aufgegeben hat, Modiano zu verlegen, kann man diesen drei Jahre alten Roman nur im Original lesen: in Reclams Reihe der Fremdsprachentexte, in der alle weniger geläufigen Worte am unteren Seitenrand übersetzt werden. Wer sich nur ein wenig Schulfranzösisch bewahrt hat, kann sich wirklich problemlos an diesen kurzen Roman wagen – es lohnt sich. Und wer Paris liebt, kommt darum sowieso nicht herum.

Quartier Latin, Montparnasse, Jardin du Luxembourg, Parc de Montsouris, Cité Universitaire, Champs-Elysées, Porte St.-Ouen, Porte de Clignancourt, das sind die Stationen dieser Reise, die den Erzähler gleichzeitig durch Gegenwart und Vergangenheit führt. Und als er beim Panthéon durch die Rue des Fossés-Saint-Jacques kommt, fällt ihm der Fall eines jungen Ehepaares ein, das sich nach einer durchzechten Nacht im Jahre 1933 dort im Haus Nummer 26 umgebracht hat. Fortan findet dieser Flaneur der Erinnerungen keine Ruhe mehr und versucht diesem fernen Rätsel auf die Spur zu kommen. Dabei treibt alles mögliche an die Oberfläche, Eigenes, Fremdes, Unerklärliches, Bedeutungsloses. Alles saugt er in sich auf, als könne er damit Fragen klären, auf die es keine Antworten gibt: die Rätsel von Leben und Tod, Zufall und Schicksal.

Patrick Modiano ist ohne Vergleich. Allenfalls in den Filmen von Antonioni gibt es jene topographische Schönheit, die den seelenlosen Mauern der Städte ein Leben einzuhauchen vermag, und jene Qual des Déjà-vu, die einem befällt, wenn man versucht einen flüchtigen Eindruck vor dem geistigen Auge scharf zu stellen. Das hat selbst Modiano nie besser hingekriegt. Aber er hat seither zwei weitere Romane geschrieben, die kaum weniger gut sind und bei uns auch noch nicht verlegt worden sind.

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