05. Oktober 1994 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Photographie, Rezension | Das absolute Sehen

EVGEN BAVCAR: Das absolute Sehen. Aus dem Französischen von Sybille Kershner. Mit 40 Photographien. edition suhrkamp (Neue Folge Band 1909), Frankfurt 1994. 148 Seiten, 14,80 Mark.

Ein Zweig hat sein linkes Auge verletzt, ein Minenzünder sein rechtes. Aber erst Monate später war er blind: „Es erschien mir wie ein langsames Abschiednehmen vom Licht. Auf diese Weise hatte ich Zeit genug, um die kostbarsten Dinge im Fluge zu erfassen, die Bilder in den Büchern, die Farben und alle Erscheinungen am Himmel, und sie mitzunehmen auf eine Reise ohne Wiederkehr.“

Auf den ersten Blick mag diese Gnadenfrist, die seinen Augen blieb, als Glück erscheinen. Andererseits hat sie diese letzten Bilder aus der Wirklichkeit womöglich mit einer Art Trauerrand versehen und seinen letzten Blicken die Unschuld genommen. Evgen Bavcar weiß es selbst nicht so genau, und wenn in diesem lebensmutigen Buch je so etwas wie Verzweiflung aufblitzt, dann in diesem Satz, mit dem er diesen Gedanken vertreibt: „Ich hoffe, ich werde nie genötigt sein, auf diese Fragen genauer zu antworten.“

Jeder mag sich beim Lesen selbst fragen, wie er mit dem Schicksal, in Kürze nicht mehr sehen zu können, umgehen würde: Wohin er gehen, was er ansehen, worauf er verzichten würde. Dem Buch wohnt dadurch eine Anschaulichkeit inne, um die sich die meisten Sehenden vergeblich bemühen. Ein ständiger Anreiz, sich das Unsichtbare auszumalen, begleitet die Lektüre. Und falls es eine Lehre gibt, die man aus diesem Buch ziehen kann, dann die, mit wachen Augen durch die Welt zu gehen. Das ist das Geschenk des Blinden an die Sehenden.

Diese visionäre, weil imaginäre Kraft durchzieht das Absolute Sehen von Anfang bis Ende. Es dürfte nur wenige Bücher geben, die auf so eindrucksvolle Weise erklären können, was Wirklichkeit ist. Daß sie immer eine Frage der Perspektive und der Einstellung ist. Und gerade dadurch, daß dem Autor der Gesichtssinn nicht zur Verfügung steht, wird deutlich, wie sehr es auf den Blickwinkel ankommt. Man begreift sehr schnell, daß sich die Welt nicht nur durch die Art verwandelt, wie sie von Bavcar erspürt, errochen und erhört wird, sondern durch jede Art von Betrachtung. „Was ist das also, ein Blick?“, fragt der Blinde: „Es ist vielleicht die Summe aller Träume, wobei man den Anteil der Alpträume wenn möglich außer acht läßt. Die Finsternis ist nur Schein, denn das Leben jedes einzelnen, so dunkel es auch sein mag, besteht aus Licht.“ Bavcars Licht kennt keine Schatten. Es meißelt die Dinge aus einer allumfassenden Finsternis, und das ist es auch, was seine Photographien, die er mit Hilfe von Freunden anfertigt, zeigen: Wie die Welt aus dem Gefängnis der Schwerkraft befreit wird und aufblitzt im Licht der Erinnerung. In den Mehrfachbelichtungen legen sich mal Schwalben, mal Schriftzeichen über die Abbildungen, und in der Art, wie alle Erscheinungen zu Leuchtspuren zerstieben, wird die Hierarchie des Sehens abgeschafft. Keinen Moment lang hat man das Gefühl, daß die surrealen Kompositionen dieser Bilder weniger wirklich wären als das, was wir für Wirklichkeit halten.

Bavcar erzählt von seiner Heimat Slowenien, jenem nicht nur für ihn untergegangenen Kontinent der Kindheit, von Städten und Landschaften, von den Schwalben und dem Wind. All das sind wunderbare Liebeserklärungen an einen Reichtum der Welt, der sich aus der Erfahrung des Mangels nährt. Es sind auch wirkliche und sehr traurige Liebesgeschichten dabei, die von jener eigentümlichen Erkenntnis erzählen, daß die Liebe nicht so einfach ist, wenn man das eigene Glück nicht im Blick des anderen spiegeln kann. Diese Erfahrung ist es auch, die den Porträts von Bavcar eine eigene Qualität gibt: das Gefühl der Unsicherheit und Nacktheit gegenüber Blinden, die für all die Masken, hinter denen man sich im Alltag zu verbergen gelernt hat, unempfindlich sind.

In dem Buch spiegeln sich auch unsere Schwierigkeiten im Umgang mit Blinden. Entweder werden sie bemitleidet oder wegen ihres Wahrnehmungsreichtums beneidet. Hier kann man lernen, daß es nicht darum geht, mehr oder weniger, sondern immer nur darum, anders zu sehen. Am schönsten wird das deutlich, wenn Bavcar zeigt, wie der Wind zu ihm spricht, weil er Dinge zum Klingen bringt, die er sonst nicht wahrnehmen würde, wiegende Bäume, flatternde Fahnen, schlagende Türen: „So spielte ich im Rauschen des Windes stundenlang mit den Bildern, in der angstvollen Erwartung seines Abklingens.“

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