28. August 1995 | Focus Magazin | Literatur, Rezension | Erklärt Pereira

Rebellion eines lebenden Toten

Antonio Tabucchis brillanter neuer Roman „Erklärt Pereira“ zeichnet eindrucksvoll das allmähliche Erwachen eines alternden Mannes nach

„In was für einer Welt“, wird der Held irgendwann gefragt, „lebst du eigentlich?“ Darüber hat Pereira zwar noch nicht nachgedacht, aber im Zweifelsfall hätte er schon eine Antwort gewußt. Schließlich ist er Redakteur der Kulturseite der Wochenzeitung „Lisboa“, für die er hauptsächlich französische Schriftsteller aus dem letzten Jahrhundert übersetzt.

Leben als Ritual: Einmal am Tage geht er ins Café Orguídea, wo er ein Kräuteromelett und eine Limonade – zur Hälfte Zucker, zur Hälfte Zitrone – bestellt. Das tut ihm zwar nicht gut, weil er es mit dem Herzen hat, aber Pereira hat auch nicht viel zu verlieren. Schließlich ist er Ende 50 und Witwer.

Das ist also die Welt, in der Pereira lebt, und daran wäre auch nichts weiter auszusetzen, wenn diese Geschichte nicht im Sommer 1938 spielen würde. In Portugal herrscht Diktatur, in Spanien Bürgerkrieg, und in Deutschland und Italien sind die Faschisten an der Macht. Aber Pereira will davon nichts wissen und tut so, als ginge ihn das gar nichts an. „Wir sind hier nicht in Europa“, sagt er, „wir sind in Portugal.“

Portugal ist die große Leidenschaft des Italieners Antonio Tabucchi, und dem Nationaldichter Fernando Pessoa gilt seine ganze Liebe. In „Indisches Nachtstück“ und „Lissabonner Requiem“ hat er auch schon von diesem Land und seinen Menschen erzählt, von dieser ganz eigenen Mischung aus Lusitaniern, Kelten, Römern und Arabern am Rande der Welt. Vielleicht braucht Tabucchi dieses fremde Land, um das Bekannte mit neuen Augen sehen und schildern zu können.

Dieser Pereira, der außer der Hitze und dem Herzen keine Probleme zu haben scheint, gerät an einen jungen Mann und seine Freundin, die ihn immer wieder um Geld und andere Gefälligkeiten bitten. Daß die beiden im Widerstand tätig sind, will sich Pereira lange nicht eingestehen, obwohl er es längst ahnt. Seine wahren Gefühle vertraut er nur dem Foto seiner verstorbenen Frau an, das ihn auch auf seine Reisen zu Kuraufenthalten begleitet.

Rebell ohne Grund: Tabucchi gelingt es eindrucksvoll, das allmähliche Erwachen des alternden Mannes nachzuzeichnen. Beinahe unwillentlich wird er zum Mithelfer des Widerstands, und manchmal hat man fast den Eindruck, Pereira lande nur deshalb im Untergrund, weil er nicht nein sagen kann. Er stellt sich sogar noch blind und glaubt, sich aus allem heraushalten zu können, als es eigentlich schon kein Zurück mehr gibt.

Das alles erzählt Tabucchi in einer unaufgeregten, fast beiläufigen Prosa, die um so wirkungsvoller diese schleichende Rebellion eines lebendigen Toten einfängt. Dabei ist immer wieder jenes „erklärt Pereira“ des Titels eingefügt.

Wem sich Pereira da erklärt, wird nicht gesagt, aber es führt dazu, daß der Leser immer wieder innehält und gewahr wird, wie schwierig es ist, eine Antwort zu geben auf die einfache Frage: „In welcher Welt lebst du eigentlich?“

Antonoi Tabucchi: Jahrgang 1943, geboren in Pisa. Professor für portugiesische Sprache und Literatur an der Universität Siena

Wichtige Werke, die auf deutsch erschienen sind: „Der Rand des Horizonts“ (1988), „Indisches Nachtstück“ (1990), „Wer war Fernando Pessoa?“ (1992) und „Lissabonner Requiem“ (1994)

Filme: Nächtliches Indien inszenierte Alain Corneau 1988 fürs Kino, „Erklärt Pereira“ wird gerade mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt.

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