13. Oktober 1994 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Photographie, Rezension | Einmal. Bilder und Geschichten

WIM WENDERS: Einmal. Bilder und Geschichten. Verlag der Autoren. 360 Seiten, 86 Mark.

Dies ist das Buch von einem Mann, der das Staunen noch nicht verlernt hat. Gerade dort, wo den meisten das Hören und Sehen vergangen ist, findet Wenders stets etwas, was der Rede wert ist. Ein Blick – und schon bricht eine Geschichte aus. Fast hat man den Eindruck, als könne er es einfach nicht lassen. Wo er auch hinsieht, gerinnt ihm alles sofort zur Erzählung. Das ist für einen Regisseur, der in seinen Filmen dem Erzähldruck immer ausgewichen ist, schon ziemlich erstaunlich.

„Einmal“‚ heißt das Buch, und so beginnt auch jeder neue Abschnitt, dem dann ein, zwei oder mehrere Bilder folgen. Die kurzen Texte nehmen zwar vorweg, was auf den Bildern dann zu sehen ist, aber die Spannung besteht darin, daß man zum einen nie genau weiß, ob man Wenders wirklich jedesmal beim Wort nehmen darf, und daß zum anderen auf den Photos immer ein Überschuß bleibt, den die Texte nicht erfassen.

Wenn Wenders also erzählt, daß er „da, wo John Fords Pferdekutschen einst dahingerast waren, ein umgestürztes Flugzeug“ fand, dann kann man getrost darauf vertrauen, daß auf der nächsten Seite ein umgestürztes Flugzeug vor dem Hintergrund des Monument Valley zu sehen ist. Und doch ist das, was man sieht, immer viel reicher als das, was man erwartet. Und was man daraus dann wiederum macht, schlägt das Sichtbare natürlich auch nochmal um Längen.

Wenn einer eine Reise tut, hieß es mal, hat er was zu erzählen. Wenders gelingt das in seiner photographischen Biographie auch heute noch, indem er in die Ritzen der Welt blickt, dorthin, wo andere nichts mehr sehen, weil sie nichts mehr erwarten. Das ist eine Sache der Einstellung, würde Wenders sagen.

Amerika, Australien, Indien, Portugal, Deutschland. Godard, Coppola, Kurosawa, Eustache, Ray. Vor lauter Reichtum weiß man gar nicht, wo man anfangen soll. Es gibt Sam Shepard und Ron Kovic beim Billard zu sehen, einen einbeinigen Aborigine und traurige alte Cowboys, eingestürzte Häuser und den Regen. Und immer wieder Orte und Landschaften und die Geschichten, die sie erzählen. Die entlegensten Winkel scheinen direkt vor unserer Nase zu liegen, und das Nahe wirkt dafür manchmal ganz fern.

Mal halten mehrere Bilder fest, wie sich etwas an der Kamera vorbeibewegt, ein Tanklastzug auf einer australischen Überlandstraße etwa, und mal, wie sich die Kamera an etwas vorbeibewegt, zum Beispiel an einer Frau auf einem New Yorker Gehsteig mit einem Sonnenreflektor um den Hals. Von Bild zu Bild sieht man, wie die Welt in Bewegung ist und wie die Zeit vergeht, Sekunden, Tage, Jahre. Man kann dem Tod bei der Arbeit zusehen – und dem Leben.

Hier ist also ein Erzähler, dem man sich bedingungslos anvertrauen kann. Und nach Lage der Dinge ist dies der beste deutsche Roman der Saison. Er hat alles, was man sonst so schmerzlich vermißt: Aktion und Reflexion, Schönheit und Welthaltigkeit. Er kennt den Panoramablick und die Detailaufnahme, sympathische und tragische Helden, und hat den Finger am Puls der Zeit. Was will man mehr.

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