09. April 1994 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Die sind einfach anders

Schwarzweißmalereien

Studs Terkel bringt den Rassismus zur Sprache

STUDS TERKEL: Die sind einfach anders. Die Angst vor der anderen Hautfarbe – der alltägliche Rassismus in Amerika. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Kügler. Europaverlag, Wien 1994. 416 Seiten, 49,80 Mark.

Zehn Betrunkene stehen zusammen. Einer ist ein Schwarzer, die anderen sind Weiße. Kommt jemand an der Gruppe vorbei und sagt: „Schaut euch den besoffenen Neger an!“ Dieses Gleichnis von Martin Luther King veranschaulicht ganz gut, wie Rassismus funktioniert. Es ist mehr eine Sache der Perspektive als der Überzeugung, mehr eine der Wahrnehmung als der Haltung. Das ist es zumindest, was ihn gefährlicher, weil alltäglicher macht.

Studs Terkel hat, wie es seine Art ist, dem Volk aufs Maul geschaut. Er hat über fünfzig Amerikaner aller Klassen, Rassen und Altersstufen zu diesem Thema befragt und ihre Schicksale und Geschichten einfach aneinandergereiht. Und wie in seinen anderen Interview-Sammlungen wirft das die Frage auf, ob Geschichte der größte gemeinsame Nenner oder das kleinste gemeinsame Vielfache ist. Zeigt sich das wahre Gesicht des Rassismus dort, wo die verschiedenen Geschichten zur Deckung kommen? Oder kriegen wir ein realistisches Bild erst in den Differenzen, die sich durch die Überlagerungen ergeben?

Amerika, behaupten wir, das ist die Vielzahl der Geschichten. Der amerikanische Traum bezieht seine Kraft nicht aus der Schnittmenge derjenigen, die vom Tellerwäscher zum Millionär wurden, sondern aus der Vielfalt aller Geschichten und Träume. Insofern ist Studs Terkel der ideale Geschichtsschreiber, weil er nicht auf repräsentative Stimmen aus ist. Wie in seiner Radio-Show bringt er die Dinge im doppelten Wortsinn zur Sprache – und Geschichte zum Sprechen.

Weiße und Schwarze, Puertoricaner und Polen, Stahlarbeiter und Busfahrer, Lehrerinnen und Schriftsteller, sie alle haben etwas zu erzählen, und keine ihrer Geschichten ist je langweilig. Dabei kann man vor allem erfahren, wie sinnlos es ist, wenn hierzulande in Talkshows über den Rassismus theoretisiert wird. Weil es eben immer nur um Überzeugungen geht und nie um die verschiedenen Formen der Wahrnehmung, bei denen der Rassismus kaum bewußt wird. Der Teufel steckt bei diesem Thema im Detail.

Es gibt die Geschichte des Jungen, der mit einem schwarzen Freund 1948 ins Schwimmbad ging und nicht begriff, warum alle das Wasser verließen, nachdem er und der Schwarze ins Becken gesprungen waren. Oder die vom südafrikanischen Onkel, der sich die Haut bleichte und die Haare glättete, um wie die amerikanischen Schwarzen auszusehen. Oder die Frau, die nachgelesen hat, was sie vor dreißig Jahren auf Terkels Fragen geantwortet hatte, und dann geweint hat, weil aus all ihren Hoffnungen von damals nichts geworden ist.

Anfang eines Erwachens

Und es gibt Charlisle Lyles, die erzählt: „Ich war in Fernsehserien vernarrt, in Bewitched und Petticoat Junction. Mir fiel niemals auf, daß Leute wie ich in diesen Filmen nicht vorkamen. Mir gefiel das Magische. Es ist eigenartig, daß ich Bewitched auch an dem Abend sah, an dem Dr. Martin Luther King ermordet wurde. Sie unterbrachen die Sendung. Ich war neun. Ich wußte nicht, was los war. Meine Mutter weinte, meine große Schwester weinte, aber das einzige, was mich interessierte, war, daß Bewitched weiterlief. Ich glaube, das war der Anfang eines Erwachens.“

Unter all der Trauer und dem Schrecken besitzen diese Erzählungen durchaus etwas Tröstliches, weil sie das Unmenschliche auf menschliches Maß zurechtstutzen. Plötzlich versteht man auch, warum Terkel gar nicht so unrecht hat, wenn er in der Einführung als Antwort auf den Rassismus zu „konstruktiver Höflichkeit“ rät. Mit einem einfachen „How are you“ rückt er dem Problem zu Leibe. Das ist Studs Terkel. Das ist Amerika. Das ist eigentlich gar nicht schlecht.

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