05. Dezember 1990 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Clarissa

Die toten Jahre

"Clarissa", ein Romanentwurf von Stefan Zweig

Stefan Zweig: Clarissa. Ein Romanentwurf. Aus dem Nachlaß herausgegeben und bearbeitet von Knut Beck. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1990. 218 Seiten. 32 Mark.

„Lieber Freund“, schrieb Stefan Zweig im September 1941 an Berthold Viertel, „wir gehen jetzt ganz in die Einsamkeit, aber es ist wenigstens eine schöne Einsamkeit und weiter weg von der Zeit. Hoffentlich kann ich gut arbeiten.“ Damals zog Zweig mit seiner zweiten Frau Lotte nach Petropolis, einem zwei Stunden von Rio entfernten Gebirgsort, wo sie einen kleinen Bungalow gemietet hatten. Seine Hoffnungen sollten sich dort jedoch zerschlagen. Zwar schrieb er seine Autobiographie „Die Welt von gestern“ ins reine, arbeitete an seinem Balzac und an verschiedenem anderem, vor allem der „Schachnovelle“. ,herum“, aber schon im Oktober fühlt er immer Sorge um die Produktion, die ohne Zufuhr auslöschen muß. wie ein Licht ohne Sauerstoff. Es fehlt ihm fernab von der Welt „der „Elan“ beim Schreiben*, alles geschehe „ohne rechte Intensität“, es sei „eher ein Weitermachen aus alter Gewohnheit als wirkliches Schaffen“. Er arbeite nur „um nicht melancholisch oder irrsinnig zu werden“.

Aber außer den bekannten Arbeiten aus Stefan Zweigs letztem Lebensjahr gab es noch ein weiteres Vorhaben. Dazu schrieb Zweig Ende Oktober 1941 an seine erste Frau Friderike: „Ich träume von einer Art österreichischem Roman, aber dazu müßte ich zehn Jahrgänge Zeitungen durchlesen, um die Einzelheiten zu bekommen – das ginge nur in New York, und dahin will ich auf absehbare Zeit nicht zurück.“ Und Ende Januar 42 wieder an Viertel: „Ich arbeite etwas, und habe auch einen Roman angefangen, aber liegengelassen: ich fühle zur Zeit die Unvereinbarkeit, isolierte Ereignisse zu schildern, die nur teilweise mit unserer Zeit etwas zu tun haben.“ Von dem erwähnten Vorhaben hörte man nie wieder etwas. Noch 1980 schrieb Donald Prater in seiner Biographie, von jenem Projekt sei „nach seinem Tode nichts aufgefunden worden“. In der herrlichen Ausgabe der Gesammelten Werke von Stefan Zweig bei Fischer ist dieses Romanfragment nun erschienen, das offenbar schon 1981 bei Recherchen im Nachlaß gefunden wurde.

Schon einmal, 1982, war ein Roman aus dem Nachlaß erschienen, ein in den frühen Dreißigern entstandener Entwurf, der als „Rausch der Verwandlung“ herausgegeben wurde. Zu „Ungeduld des Herzens“, dem einst vermeintlich einzigen Roman Zweigs, gesellt sich nun also noch ein drittes Romanprojekt, das nach seiner Hauptfigur vom Herausgeber Knut Beck „Clarissa“ genannt worden ist. Worum es sich dabei handelt, beschreibt am besten die Eintragung auf der ersten Seite des Manuskripts, von der Beck glaubt Zweig habe sie in den letzten Stunden vor dem Selbstmord beim Ordnen seiner Papiere gemacht: „Roman im ersten Entwurf begonnen, die Welt von 1902 bis zum Ausbruch des Krieges vom Erlebnis einer Frau gesehen. Nur erster Teil skizziert, der Anfang der Tragödie, dann für die Arbeit am Montaigne unterbrochen, gestört durch die Ereignisse und die Unfreiheit meiner Existenz. Stefan Zweig November 41 bis Februar 42.“

Clarissa Schuhmeister erlebt in ihrer unvollendeten Rückschau etwas, was Zweig in seinen Tagebüchern schon sehr früh beklagte, „wie matt, wie gefährlich, wie krankhaft matt mein Gedächtnis geworden ist“, und, „daß ich keinen Besitz am Vergangenen habe“. So beginnt auch das Romanfragment: „Wenn Clarissa in späteren Jahren sich bemühte, ihr Leben zu besinnen, wurde es ihr mühsam, den Zusammenhang zu finden. Breite Flächen schienen wie von Sand überweht und völlig undeutlich in ihren Formen, die Zeit selbst darüberhinschwebend, unbestimmt wie Wolken und ohne richtiges Maß.“ Was hier entworfen wird, ist das Bild einer von ihrem Zeitalter betrogenen Frau, ein vom Lauf der Welt umgeschriebener Lebenslauf.

Clarissa lernt 1914 auf einem Kongreß in Luzern den Franzosen Leonard kennen und lieben, und nichts scheint ihr Glück trüben zu können – bis plötzlich der Krieg ausbricht und aus ihrem Geliebten ein Feind, aus ihrer Liebe eine Unmöglichkeit wird. Beide müssen zurück in ihre Heimat, in der Hoffnung, alles werde bald vorübergehen. Zu Hause in Wien arbeitet Clarissa im Lazarett und stellt bald fest, daß sie schwanger ist. Sie bekommt das Kind, aber weil sie von Leonard nichts hört, wird sie in ihrer Not einen ihr zugetanen, aber fremden Mann heiraten. Eine der schrecklichen Launen des Schicksals hat sie so um ihr Glück gebracht, und als ihr auch noch ihr Vater nach dem Krieg voller Verachtung einen Packen Briefe von Leonard hinwirft. die er unterschlagen hatte, weil sie vom „Feind“ kamen, da weiß sie nur noch: „Jetzt war es zu spät, sie mußte die Lüge weiter leben,“ Der Roman bricht dann mit einer lapidaren Eintragung für die Jahre 1921-1930 ab: „Das waren für Clarissa die toten Jahre. Sie hatte nur das Kind.“

Knut Beck hat mit der Herausgabe dieses Fragments den Versuch gewagt, „eine vertretbare geschlossene, wenn auch naturgemäß nur nachempfundene, also nicht in jedem einzelnen Satz authentische Fassung zu erarbeiten“. Im Anhang kann man an einem Editionsbeispiel sehen, welche Arbeit das gewesen sein muß. Da hetzt Stefan Zweig über weite Strecken ohne Subjekte und Prädikate über die Seiten, nur die nötigsten Anhaltspunkte für eine spätere Reinschrift hinterlassend. Vielleicht sollte man sich diesen Roman wie einen Film vorstellen, als sehr werkgetreue Adaption, bei der Zweig das Drehbuch geschrieben und Knut Beck Regie geführt hat. Da fehlt im Nachwort ein Hinweis auf Zweigs Gewohnheit, wo verglichen werden müßte, inwieweit sich bei den bekannten Büchern seine ersten von den endgültigen Fassungen unterschieden haben.

Für die Lektüre ist das kein Nachteil. Alles, was Zweig auszeichnet, findet sich auch in „Clarissa“: die unvergleichlich bildhaften Charakterstudien, die auf den M¬ment hingespannten Lebensläufe, die auf Erfüllung drängenden Schicksale. Clarissas Leben ist wie Zweigs andere Biographien suggestiv im Psychologischen und eindringlich im Atmosphärischen. Es ist das Porträt einer Frau, die gesagt bekommt, man spürt Sie kaum, und Sie selbst spüren sich vielleicht nicht genug“, und die in dem Moment, wo ihre Emotionen beginnen, Konturen anzunehmen, schon wieder aus der Bahn geworfen wird. „Clarissa“ erzählt von der Tragödie eines nicht gelebten Lebens.

Für das Grauen der „toten Jahre“ fand Stefan Zweig keine Worte mehr. Er sah sie selber nahen, hatte die Kraft zu Hoffnung und Illusionen verloren. Seine „schwarze Leber“, wie er seine Depressionen scherzhaft nannte, nagte an ihm, fernab der Freunde, der Sprache und der Bücher, die ihm alles bedeuteten. Am 22. Februar 1942 nimmt er mit seiner Frau Lotte zusammen Veronal und scheidet freiwillig aus dem Leben. Sein Abschiedsbrief endet mit den Worten: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht. Ich allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voran!“

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