11. Februar 1995 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Buddy Boldens Blues

Jenseits der Spiegel

Michael Ondaatjes frühes Hirngespinst "Buddy Boldens Blues"

MICHAEL ONDAATJE: Buddy Boldens Blues. Roman. Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen. Hanser Verlag, München 1995. 184 Seiten, 29,80 Mark.

Wie jede wahre Geschichte ist auch diese durch und durch erfunden. Wahr an ihr ist, daß es um die Jahrhundertwende tatsächlich einen Mann namens Buddy Bolden gegeben hat, der es mit seinem Kornett in New Orleans zu einigem Ruhm gebracht hat. Es gibt auch – siehe oben – ein Photo von ihm, ein einziges, in das unsere Vorstellungen von ihm stürzen wie in ein schwarzes Loch. Durch die Löscharbeiten nach einem Brand, heißt es, sei das Photo angegriffen worden. Und ausgerechnet über Bolden scheint ein Nebel zu schweben, der seinen Körper mit Auflösung bedroht. Wie ein Phantom wirkt er mit seinem entrückten Lächeln, so daß man eigentlich sagen kann, daß ihn dieser einzige Beweis seiner Existentz eher noch geisterhafter wirken läßt, als es bei erfundenen Figuren der Fall wäre.

Ondaatje kann uns also viel erzählen, was diesen Typen angeht. Und genau das ist sein Ansatz. Da es nichts Flüchtigeres gibt als den Eindruck, den ein Leben in dem hinterläßt, was man Erinnerung nennt, benutzt Ondaatje die Wirklichkeit nur als eine Art Kleiderstange, auf die er seine Erfindungen zu Boldens Biographie hängt. Es gibt also Daten und Fakten, Interviews und Krankenblätter, aber genauso gut könnten sie auch erfunden sein. Es spielt nicht wirklich eine Rolle. Hier zählen andere Wahrheiten: Man steigt „über den Stacheldraht, der an seinem Herzen befestigt war.“

„Warum haben meine Sinne bei dir innegehalten?“, fragt Ondaatje und träumt sich hinein in die Wirklichkeit. Das hat er in seinen anderen Büchern auch gemacht, hat alte Photos, Zeitungsausschnitte oder Zeugenaussagen genommen und sich forttragen lassen ins Reich dahinter: In der Haut eines Löwen, Es liegt in der Familie und Der englische Patient. Dieses Buch ist noch vorher entstanden, 1976 unter dem Titel Coming Through Slaughter. Damals waren die Kanten zwischen Realität und Fiktion noch rauher, die Übergänge weniger geschliffen, die Melodie brüchiger. Aber vielleicht paßt das ja ganz gut zu seinem Helden, in dessen Spiel man offenbar das Blut in den Adern pochen hören konnte: ‚Spüre, wie echtes Blut hochsteigt und neue Kraft heranbringt, es kommt hoch und flutet an meinem Herzen vorbei in einer wahnwitzigen Parade, jetzt kommt es durch meine Zähne, es ist im Kornett, mein Gott kann es nicht aufhalten, kann die Luft nicht aufhalten und nicht die rote Flut, die hochsteigt…“

Geschriebene Musik

Das Buch ist, man sieht es an dem Zitat, die reinste Musik. Eine Rhapsodie von Tönen und Gefühlen, von Rhythmen und Melodien, die sich auf den Seiten brechen wie Wellen am Strand. Das kann Ondaatje wie nur wenige andere: der Sprache Schaumkronen und Gischt und den Dingen ihre Melodie entlocken. So taumelt er in diesem Buch auf seinen Helden zu, hinein in einen Wirbel aus Eindrücken und Phantasien, und immer geht es dabei darum, ins Reich jenseits der Spiegel zu gelangen, die überall in der Erzählung aufgehängt sind.

Einmal spricht Bolden davon, daß er manchmal aufstehe, das Metall an den Mund setze und versuche, einen Ton genau in der richtigen Lage zu treffen, ‚um der Stimmung des Zimmers zu entsprechen‘. Genauso muß man sich Ondaatje vorstellen, der den Stift ansetzt und versucht, der Stimmung dieser auf den Wahn zutreibenden Musik zu entsprechen, von der es keine Aufnahmen gibt. Da treiben dann die Bruchstücke von Liedern im Kopf, als wäre er ein Goldfischglas, und die Trompete eines weniger begabten Zeitgenossen gleitet flußabwärts, ohne je den Dreck auf dem Grund zu berühren.

Der Photograph E. J. Bellocq, der durch seine Storyville Portraits auch heute noch bekannt ist, treibt wie Boldens Bruder im Geiste durch die Geschichte. Er ist eine Art Parallelfigur, in deren Schatten Ondaatje viel von seinem Bolden wiederfindet. In der Dunkelkammer holt er seine Bilder von Prostituierten ans Licht, und so wie sie dabei in der Entwicklerflüssigkeit langsam Form annehmen, so steigt auch langsam das Porträt des Mannes Bolden durch das trübe Wasser der Vergangenheit an die Oberfläche dieses Buches. Es ist zerkratzt, versehrt, flüchtig und verführerisch. Es geht dem Leser wie dem Helden: Es ist als könne er auf einmal die Luft sehen, die die Menschen auf alten Photos umgibt.

Buddy Bolden hat vielleicht wirklich gelebt. Vielleicht auch nicht. So oder so wird er in Ondaatjes Roman lebendig. „Ihr war bewußt, daß seine Finger die ganze Zeit, während sie sprachen, ins Fleisch ihres Rückens gedrückt hatten, als betätige er die Ventile eines Kornetts. Sicherlich bemerkte er das überhaupt nicht, sicherlich würde er sich daran nicht einmal erinnern… Aber sie täuschte sich. Er hatte noch an Cakewalking Babies gefeilt.“

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