29. April 1999 | Süddeutsche Zeitung | Kunst, Rezension | Geschichten des Augenblicks

Die unerträgliche Langsamkeit des Seins

Die Kunst macht sich übers Kino her: "Geschichten des Augenblicks" im Kunstbau Lenbachhaus

Der Himmel ist blau, und eine tiefstehende Sonne beleuchtet die kargen Felsformationen, in die sich ein Immobilienmakler eine supermoderne Villa gebaut hat. Im nächsten Moment zerreißt eine Explosion das Bild, und zur Musik von Pink Floyd sieht man sieben Minuten lang, wie sich ein Kühlschrank, ein Bücherregal, ein Kleiderschrank und ein Fernseher in Superzeitlupe in ihre Bestandteile zerlegen. Seltsamerweise hat man dabei nie den Eindruck gewaltsamer Zerstörung, sondern eher das Gefühl einer Befreiung, als entspräche die Explosion dem natürlichen Bedürfnis der Gegenstände, sich dem Gefängnis ihrer Form zu entwinden.

Die Szene stammt aus Michelangelo Antonionis 1970 gedrehtem Film „Zabriskie Point” und belegt vor allem, daß das Kino auch nicht auf den Kopf gefallen ist, wenn es darum geht, sich dem Zwang der Erzählung und dem Hang zur Geschwindigkeit zu entziehen. An diese Szene muß man denken, wenn man im Lenbachhaus Kunstbau die Ausstellung „Geschichten des Augenblicks” ansieht, in der sich acht Künstler ihren Reim auf das machen, was der Untertitel „Über Narration und Langsamkeit” nennt. Man muß aber auch an Andy Warhol denken, der 1965 acht Stunden das Empire State Building filmte, oder an Michael Snow, der sich zwei Jahre später 45 Minuten lang einer an der Wand hängenden Photographie näherte. Warum letztere dem Film zugeschlagen werden, während die ausgestellten Künstler zur Kunst gezählt werden, ist eine nicht zu beantwortende Frage. Die Unterscheidungen sind jedenfalls fließend, und dieser Grenzbezirk ist ja schließlich auch kein schlechter Ort, um eine Ausstellung darin zu veranstalten.

Susanne Gaensheimer hat jedenfalls acht Arbeiten ausgesucht, die exemplarisch den Umgang der Kunst mit dem bewegten Bild beleuchten. Von der Bewegung, die dem Kino zueigen ist, bleibt dabei am Ende nicht mehr viel übrig. Ein Großteil der Künstler nimmt dem Kino, was es zum Leben braucht: jene Gewißheit, daß bei einer Geschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde das menschliche Auge Einzelbilder zu einer fließenden Bewegung zusammenfügt. Diese Entdeckung der Langsamkeit ist indes nicht neu – die Arbeiten reichen zurück bis in die sechziger Jahre.

Bloße Zahlen, Daten, Fakten vermitteln schon einen guten Eindruck, was da passiert: Gordon Douglas führt Hitchcocks „Psycho” mit zwei Bildern in der Sekunde vor – wodurch der Film auf 24 Stunden zerdehnt wird. James Coleman verlängert eine halbe Sekunde aus einem Film von James Whale mit Diaüberblendungen auf acht Stunden. Und Bill Viola macht aus der 45-sekündigen Nachstellung eines manieristischen Bildes aus dem 16. Jahrhundert durch Zeitlupe eine zehnminütige Szene. Und auch Steve McQueen gewinnt durch Verlangsamung einem Kampf zweier nackter Schwarzer zehn Minuten lang neue Bedeutungen ab.

Die Methoden gleichen sich, die Ergebnisse nicht. In jedem Fall werden die Filmbilder jener Bedeutungen entledigt, die sich bei normaler Betrachtungsweise so spielend ergeben. Am spannendsten ist dabei nach wie vor Douglas Gordons Klassiker „24 Hours Psycho”, auf den man nach dem Eingang über die Rampe zugeht. Wer den Film kennt – und das wird bei den meisten der Fall sein –, hat Mühe, seine Gedanken im Zaum zu halten – stets eilen sie dem Bild voraus, sehen Schrecken, wo noch keine sind, und laden die Bilder mit allerlei Bedeutungen auf, die sie im Einzelfall gar nicht besitzen.
Wobei der Reiz auch darin besteht, daß man um die Leinwand herumgehen und ihre Rückseite betrachten kann. Das kommt dem geradezu natürlichen Verlangen entgegen, inmitten dieser lähmenden Konzentration auf Details buchstäblich „hinter” das Geheimnis der Bilder kommen zu wollen – dort sieht man den Film jedoch nur spiegelverkehrt. Was aber dennoch die räumliche Sensation verstärkt, der Film sei irgendwie begehbar geworden.

Bei Viola und McQueen wird man hingegen vor allem an „Rette sich, wer kann (das Leben)” erinnert, wo Godard immer wieder das Bild der radfahrenden Nathalie Baye angehalten hat und dadurch Ausdrücke von Weiblich- und Körperlichkeit eingefangen hat, die dem bloßen Auge sonst verborgen geblieben wären. Was jeder erlebt, wenn er Schnappschüsse von sich sieht: Ohne Bewegung zerfallen Welt, Identität, Bedeutung in ihre Bestandteile. Wobei Susanne Gaensheimer in ihrem Katalogtext die interessante Beobachtung macht, daß die Verlangsamung die filmische Erzählung unlesbar macht: „Selbst wenn wir mehrere Stunden vor der Installation ausharren würden und das Geschehen zu verfolgen versuchten, so könnten wir die Dramaturgie und Psychologie der Beziehungen aufgrund der Verlangsamung nicht erfassen. ” So stünde also der Trägheit des Auges die Behendigkeit des Gehirns entgegen.

Die andere Hälfte der Ausstellung setzt auf Realzeit: Bruce Nauman schminkt sich mit vier Farben; Stan Douglas zerlegt Bild und Ton und führt sie wieder zusammen; Tacita Dean beobachtet Frauen in einem Budapester Bad; und Rosemarie Trockel nimmt in zwei Kurzfilmen die Bilder beim Wort. Der Effekt ist auch hier im Prinzip derselbe: Die Erlebnis von Dauer zerlegt das Dargestellte im Wesentlichen in seine Bestandteile; ohne die stützenden Koordinaten, die uns vorgeben, wie ein Bild zu lesen ist, tappen wir schnell im Dunkeln.

Die Kunst bedient sich also der Mittel des Kinos, will aber dessen Gesetze außer Kraft setzen. Sie legt den Filmen schwere Fußketten an, damit sie nicht mehr von der Stelle kommen – aber man spürt sie allerorten zerren und zurren. Die Langsamkeit, von der hier die Rede ist, wirkt alptraumhaft und nicht gerade als Schule des Zuschauens, Entspannens, Nachdenkens – aber wer sagt, daß Kunst dazu da ist, sich wohlzufühlen?

Nie war Peter Greenaways Spruch, wonach Vermeers Bilder womöglich nur eine vierundzwanzigstel Sekunde eines Films aus dem 17. Jahrhundert darstellen, einsichtiger als hier. Wenn man hinterher den Katalog aufschlägt, in dem ein Aufsatz zur „Zeit als gestalterischem Element” mit zwei Gemälden von Vermeer bebildert ist, dann hat man nach all diesen Augenblicken, die aufs Verweilen ausgerichtet sind, geradezu den Eindruck, die Zeit rase in ihnen nur so dahin. Man blickt auf Vermeers brieflesendes Mädchen am offenen Fenster und spürt genau jene Bewegung, die den Bildern in der Ausstellung so nachhaltig ausgetrieben worden ist. Man glaubt, den Wind in den Locken des Mädchens spielen zu sehen, den Brief im Luftzug knistern zu hören und zu erleben, wie das Licht die Farben zum Erstrahlen bringt – dabei handelt es sich nur um eine mickrige Schwarzweiß-Abbildung.

Nicht auszudenken, was die Besucher der Ausstellung erwartet hätte, wenn sich ein echter Vermeer an die Installationen angeschlossen hätte. Man muß also schleunigst ins Lenbachhaus hinaufgehen, dann kann man noch erleben, wie der Wind und das Licht in die Gemälde fahren. Ehe sie dann wieder alle vor dem Betrachter stramm stehen. Damit keiner sie dabei ertappt, wieviel Leben in ihnen steckt. Vielleicht muß man sich das Personal auf all den Gemälden ohnehin so vorstellen, daß sie ständig in Bewegung sind und ihren Beschäftigungen nachgehen und nur vor dem Betrachter sich in Positur begeben.

Auf solche Gedanken kommt man, wenn man in diesen „Geschichten des Augenblicks” den Spieß umdreht. Fürs erste ist man dann schon froh, wenn die U-Bahn mit normaler Geschwindigkeit in den Bahnhof Königsplatz einfährt.

Zur Ausstellung, die bis 13. Juni zu sehen ist, gibt es einen zweisprachigen, von Helmut Friedel herausgegebenen Katalog im Verlag Hatje Cantz, der 39 Mark kostet. Im Filmmuseum läuft ab Mitte Mai auch eine Filmreihe – dazu später mehr.

BLOW UP: Sieben Minuten dauert die Explosion in Antonionis Film „Zabriskie Point”, und dabei scheinen sich Dinge wie Fernseher, Kühlschrank, Bücherregal oder Kleiderschrank geradezu fröhlich in ihre Bestandteile aufzulösen – das zeigt, daß das Kino nicht unbedingt die Kunst brauchte, um die Freuden der Langsamkeit zu entdecken.

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