17. Februar 1995 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Wilde Herzen

WILDE HERZEN von André Téchiné

Frühes Leid

Es gibt einen Moment in diesem Film, wo sich der ganze Zauber des Kinos mit einer selbstverständlichen Geste entfaltet. Zwei Jungs fahren auf dem Motorrad übers Land. Der eine hat sich in den anderen verliebt, der andere tut so, als wisse er davon nichts. Der Verliebte sitzt hinten auf dem Sattel und hat die Arme um den Vordermann geschlungen. Man sieht den Wind im Haar und hört den Motor brummen. Da legt der eine Junge den Kopf auf den Rücken des anderen, und auf einmal setzt Musik ein. Mehr passiert nicht. Man sieht nicht nur das Glück des Jungen, mit seinem Freund zusammensein und seine Nähe spüren zu dürfen – man hört es plötzlich auch. Das ist nur eine kleine filmische Geste, aber eine ganze Welt liegt darin.

TOUS LES GARÇONS ET LES FILLES DE LEUR ÂGE hieß in Anlehnung an ein Chanson von Françoise Hardy eine Reihe, die der Sender arte bei französischen Regisseuren in Auftrag gegeben hatte: Jeder sollte sich ein Jahrzehnt aussuchen und um ein paar Songs jener Jahre herum seine Erinnerungen an den Zustand zwischen Kindheit und Erwachsensein komponieren. André Téchiné hat die frühen sechziger Jahre gewählt: Del Shannon, Chubby Checker, die Platters und die Beach Boys.

Man merkt diesem und auch den Filmen der anderen Regisseure an, daß in ihren Herzen Musik spielt. Und das Echo dieser Musik breitet sich wie Wellen in den Geschichten und Figuren aus. Ein Taumel erfaßt sie manchmal, eine Leichtfüßigkeit, die die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Bei Téchiné bedeutet das, daß sich der Algerienkonflikt, der in seiner kleinen Welt für Unruhe sorgt, zwar nicht in Wohlgefallen, aber jederzeit in einen Walzer auflösen kann.

Dies ist also der Sommer 1962, irgendwo im französischen Midi an der Garonne. Über allem liegt das Licht des Südens: über dem Anfang, wenn es bei einer Hochzeit über den Feldern flimmert, und am Ende, wenn es beim Baden durch die Bäume bricht. Drei Jungs und ein Mädchen tasten sich langsam aneinander heran, lassen ihre Sehnsüchte wie Muskeln spielen und verlieren sich im steten Hin und Her zwischen Anziehung und Verweigerung. Die Kindheit liegt hinter ihnen, aber erwachsen sind sie auch noch nicht. So ziehen die Tage des Sommers dahin, während in der Ferne der Algerienkrieg tobt.

Unordnung und frühes Leid herrschen in WILDE HERZEN, und eine Melancholie liegt auf den Gemütern, die manchen Schmerz schon vorwegnimmt, ehe er überhaupt eingetreten ist. Als dann der ältere Bruder eines der Jungen nicht mehr aus dem Krieg zurückkommt, scheint sich diese Verzagtheit zu bestätigen.

Etwas spröde wirkt der Film anfangs schon, wie alle Filme von Téchiné, ganz so, als müßte er selbst erst warm werden mit seinen Figuren. Aber wie jedesmal schafft es Téchiné, aus dieser Abgeklärtheit, die sich nichts mehr beweisen muß, Momente zu schlagen, die man nicht wieder vergißt.

Und am Ende erfaßt diesen Film eine Heiterkeit, ein Überschwang, dem man sich kaum entziehen kann. Da geht das Quartett der gar nicht so wilden Herzen gemeinsam zum Baden an die Garonne. Nichts ist klar zwischen den vieren: weder die Liebe des einen Jungen zum anderen noch die Gefühle des Mädchens, noch sonst irgendwas. Während sich die vier im Wasser und im Licht treiben lassen, gerät alles in Fluß. Und doch ist auf einmal alles anders: Entscheidungen werden getroffen, und die ergeben dann zwar noch keine Zukunft, aber immerhin einen Anfang.

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