01. Mai 1992 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Die Weissagung

DIE WEISSAGUNG von Chen Kaige

Tausend Saiten

Mitten in der Nacht, im Nirgendwo, ist die Welt nichts als ein riesiger Friedhof unterm Mond. Ein alter Mann stirbt. Seinem blinden Schüler prophezeit er vorher noch, er werde wieder sehen können, wenn er die tausendste Saite seines Sanxian, eines Drei-Saiten-Instruments, zum Zerspringen gebracht hätte. Der Blinde spielt und spielt, und als die letzte Saite gerissen ist, sind ein Film und ein Leben vergangen. Ein Kästchen öffnet sich, und ein Zettel fällt heraus. Das ist das Geheimnis.

Im Reich der Zeichen hat alles seine Ordnung. Und nichts ist ohne Bedeutung. Aber die Zeichen können wir nicht lesen, ihre Bedeutung bleibt uns verschlossen. Das Gleichnis von der WEISSAGUNG ist gleichwohl von universeller Gültigkeit. Wichtig ist nicht das Geheimnis, das der Zettel enthält, sondern die Hoffnung, die damit ein Leben lang verbunden war. Aber daß der Weg das Ziel ist, kann man in jedem Glückskeks nachlesen. Und so einfach macht es sich Chen Kaige inseinem vierten Film nach GELBE ERDE, DIE GROSSE PARADE und DER KÖNIG DER KINDER auch nicht. Deshalb zieht an der Seite des Blinden, der längst selbst ein alter Mann geworden ist, wiederum ein blinder Schüler durch die Lande. Der will sich nicht durch eine vage Hoffnung vom Leben abhalten lassen. Er setzt nicht auf die Weissagung der tausendsten Saite, sondern auf sein eigenes Geschick. Glücklicher wird er dadurch auch nicht, aber er hat mehr vom Leben, zumindest im landläufigen Sinn. Denn seine Heimat ist das Reich der Sinne.

DIE WEISSAGUNG besitzt eine Strenge, eine Feierlichkeit und eine Geschlossenheit, die den Film gleichermaßen faszinierend wie exotisch machen. Diesseits von China erahnt man wohl kaum die Hälfte des Reichtums, den dieses Werk birgt. Vermutlich heißt es geradezu Perlen vor die Säue werfen, wenn man den Film hierzulande zeigt. Aber Verstehen ist schließlich nicht alles im Kino: Auch Staunen ist erlaubt. Man muß nicht die Bedeutung der Elemente in der chinesischen Kultur kennen, um die elementare Kraft dieser Bilder zu empfinden. Chen und sein Kameramann Gu Changwei haben in Shanxi Landschaften für ihre Geschichte gefunden, wie sie sich eigentlich nur Blinde erträumen können: Wasserfälle, Steinwüsten, Salzseen, Dünen, Katarakte – ein Wogen und Fließen von Licht und Linien, Formen und Farben, in dem die Trennlinie zwischen Himmel und Erde aufgehoben scheint. Eine gewaltige Choreographie ist hier in Gang gesetzt, in der Chen sein Gleichnis wie ein graphisches Ballett inszeniert: Bootsübersetzung, Fackelmeer, Hochzeitszug, Stammesfehde, Drachenspiel. Und dazwischen getrocknete Sonnenblumen, orangenbewachsene Torbögen, versandete Fischskelette oder ein rotes Kleid, das auf der Netzhaut explodiert. Es vergeht einem Hören und Sehen in diesem Film. Manchmal kann Blindheit ganz nützlich sein.

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