29. Mai 1992 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Jacquot

Jacquot von Agnès Varda

Die Erweckung

Der Vorhang geht zu. Das Puppenspiel ist zu Ende. Die Kinder gehen heim. Nur eines nicht. Die Mutter mahnt: Der Vater warte zu Hause. Doch der Junge beharrt darauf: Es ist nicht zu Ende! Manchmal geht der Vorhang wieder auf.

Der Junge heißt Jacques Demy, genannt Jacquot. Er wurde der Regisseur von Filmen wie LOLA und DIE BLONDE SÜNDERIN, DIE REGENSCHIRME VON CHERBOURG und DAS MÄDCHEN VON ROCHEFORT, DAS FOTOMODELL und EIN ZIMMER IN DER STADT. Die ersten Bilder des Films sind die letzten Bilder von Demy. Er liegt im Sand, an einem Julisonntag in der Normandie. In den Cahiers du Cinéma schrieb seine Frau Agnès Varda später, dies sei das Ende eines sehr schönen Sommertages gewesen. Und zum ersten Mal habe Jacques sich nicht mehr wohl genug gefühlt, mit ihr zusammen die Schönheit dieses Strandes zu genießen. Man glaubt es seinem Gesicht anzusehen. Es scheint unsere Trauer zu spiegeln. Im Oktober 1990 ist Jacques Demy gestorben. Im Kino rinnt immer noch der Sand durch seine Finger, und das Meer liegt gleißend im Abendlicht.

Biographie: Ein Spiel. Drei Jungen spielen Jacquot im Alter von acht bis achtzehn. Sie leihen den Erinnerungen einen Körper, dessen äußere Hülle die Bilder von Demy am Strand bilden. Man muß sich das wie ineinander steckende Schachteln vorstellen. In jeder größeren sind alle kleineren enthalten. Der Film besteht darin, daß eine nach der anderen herausgezogen und ausgeleert wird. So stöbert Agnes Varda in den Erinnerungen, immer auf der Suche nach jener verlorenen Zeit, die sie nicht mit ihrem Mann verbracht hat. Was er erzählt hat, bringt sie auf die Bühne und erweckt es zum Leben. So entreißt sie seine Kindheit dem Tode.

Schwarzweiß ist die Farbe der Erinnerung, und daran hält sich der Film die meiste Zeit. Aber manchmal entstehen Löcher, durch die man auf die darunter liegenden Fiktionen blicken kann. Wo die Wirklichkeit aufhört und die Kunst anfängt, wird es bunt. Das Rot des Vorhangs im Puppentheater kehrt wieder in den Filmausschnitten von Demy, der oft in wunderschön klaren Farben schwelgte.

Vom Puppenspiel ist Jacquot von Anfang an fasziniert. Er bastelt sich aus einem Karton ein eigenes Theater und Puppen dazu. Die Jahre der Kindheit verbringt er mit der Vervollkommnung der Illusion. Er kauft sich ehe erste Kamera, errichtet im Speicher eh kleines Studio, dreht Trickfilme, ersteht eine bessere Kamera und geht schließlich an die Filmhochschule. Agnès Varda hingegen hatte, als sie ihren ersten Film drehte, nach eigenem Bekunden keine Ahnung vom Kino. Ihr „Jacquot“ spiegelt auch die Faszination angesichts eines Mannes, der das Kino von Kindesbeinen an als Berufung sah.

Dem kleinen Jacquot war die Welt eine Bühne. Und die Bühne die Welt. Der Film zeigt es auch so: Kaum eine Einstellung, die sich nicht wie von allein in einen Rahmen fügt. Die Blicke gehen zumeist durch Fenster und Türen, und was man von der Welt sieht, ist immer durch die Toreinfahrt gerahmt, dte die Autowerkstatt der Demys im Hinterhof von der Straße trennt. Als die Deutschen in Nantes einmarschieren, sieht man von ihnen nicht mehr als den kleinen Ausschnitt, den die Einfahrt auf die Straße freigibt. Die verschiedenen Bilderrahmen sind ineinander enthalten wie das Dokumentarische im Fiktiven.
Der Reigen hat kein Ende. Denn die Verweise aus dem Film in die Wirklichkeit sind ja auch wieder Filme. Da gesteht Jacquot, daß er in Walt Disneys Schneewittchen verliebt ist, weil sie immer singt, und es folgt ein Ausschnitt aus „Peau d’âne“, in dem Catherine Deneuve singend ihre Hausarbeit erledigt. Eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger weist jeweils den Weg in Demys Filme. Aber der Weg von der Wirklichkeit in die Kunst ist keine Einbahnstraße. Zumal sich in den Reigen immer wieder Aufnahmen gesellen, die Agnes Varda von ihrem Mann gemacht hat. Es sind Reisen über die Landschaft seiner Haut und Haare, bei denen man jede Pore sehen kann. Ganz nah ist die Kamera da, als würde sie ihren Jacques streicheln. Es ist nicht zu Ende. Manchmal geht der Vorhang wieder auf.

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