20. November 1995 | Focus Magazin | Filmkritiken, Rezension | Der Totmacher

Aus einem deutschen Leben

Der Dokumentarist Romuald Karmakar verhilft Götz George zur besten Leistung seiner Karriere: In seinem Spielfilmdebüt DER TOTMACHER lebt der legendäre Massenmörder Fritz Haarmann wieder auf

Manchmal konnte man in den letzten Jahren fast Mitleid haben mit Götz George, so sehr hat er sich abgemüht, seine schauspielerische Potenz unter Beweis zu stellen. Er hat alles unternommen, um seinem Image als rauhbeiniger Kommissar zu entkommen. Weichlinge hat er gespielt, aalglatte Geschäftsmänner, verliebte Lastwagenfahrer, alles nur, um dem Schimanski, den alle in ihm sahen, zu entfliehen. Aber der Erfolg, den er herbeigesehnt hat, wollte sich nicht so recht einstellen. Er wurde gelobt, aber sein Publikum konnte er damit kaum überzeugen.

Es mußte also erst einer kommen wie Romuald Karmakar, der bisher nur ein paar Dokumentarfilme über Söldner und Soldaten, Kampfhunde und Hahnenkämpfe gedreht hatte. Einer, der einem deutschen Massermörder auf der Spur war, jenem berühmt-berüchtigten Fritz Haarmann, der in den 20er Jahren 24 junge Männer oder gar noch mehr getötet und zerstückelt hat. Fasziniert von den Protokollen der gerichtspsychiatrischen Untersuchung, bei der Haarmann im Sommer 1924 in Göttingen sechs Wochen lang auf seinen Geisteszustand hin überprüft wurde, inszenierte Karmakar damit seinen ersten Spielfilm: DER TOTMACHER.

Der Debütant hält sich nicht lange mit Erklärungen auf, sondern steigt mittenrein. Was da wo, wann und warum passiert, muß man sich nach und nach selber zusammenreimen. Keine Rückblenden, nur dieses eine Zimmer der Landes-Heil-und-Pflege-Anstalt in Göttingen, in dem die Kamera von Fred Schuler ihren einsamen Tanz veranstaltet. Manchmal fängt es draußen zu regnen an, manchmal scheint die Sonne, manchmal kommt jemand vorbei. Aber sonst gibt es 114 Minuten lang dieselbe Situation: Mörder, Gutachter, Stenograph. Der eine redet, der andere stellt Fragen, der dritte schweigt. Ein Drei-Personen-Stück, aber eine One-man-Show: Götz George spielt Haarmann, Jürgen Hentsch gibt die Stichworte, und Pierre Franckh schreibt und sieht zu. Mehr nicht, aber etwas Spannenderes kann man sich kaum vorstellen.

George stürzt sich auf die Rolle, als wäre sie ein Stück von ihm. Ein schauspielerischer Kraftakt, in dem er alle Register seines Könnens zieht – und zwar mit voller Wucht. Dabei hat er schon einmal eine Bestie in Menschengestalt gespielt. Das war 1977 als Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß in Theodor Kotullas Film AUS EINEM DEUTSCHEN LEBEN.

George greint und lacht und brüllt und weint. Mal wirkt er wie ein verspieltes Kind, dann wie ein gequältes Tier, dann wie ein wilder Kerl, dann wie ein billiger Komödiant. Er ist furchteinflößend und mitleiderregend, und am Ende sieht man, daß es ihm hier nicht nur um Spiegelfechtereien mit seinem Image ging, sondern um viel mehr. Je länger der Film dauert, desto mehr erinnert er nämlich an seinen Vater, den großen Heinrich George. Aber dadurch gerät er nicht in seinen Schatten, sondern tritt aus ihm heraus. Es ist, als würde er die Rolle als seines Vaters Sohn, die ihm zwangsläufig immer zu groß gewesen ist, zum erstenmal richtig ausfüllen können.

Bei den Filmfestspielen in Venedig wurde George folgerichtig mit dem Preis für den besten Schauspieler ausgezeichnet, und es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn er für den TOTMACHER nicht auch noch den Bundesfilmpreis bekäme. Dies ist auf jeden Fall die Rolle, die ein Schauspieler nur einmal im Leben spielt – wenn überhaupt.

Im deutschen Kino war es in letzter Zeit nicht mehr sonderlich populär, Mörder zu spielen. Das war ein Fall für Nebendarsteller; denn die Stars und die, die sich dafür hielten, wollten sich an diesen Rollen nicht die Finger schmutzig machen.

Beispiele gibt es genug, was ein guter Schauspieler aus solchen Parts herausholen kann – zuletzt Anthony Hopkins als Hannibal the Cannibal im SCHWEIGEN DER LÄMMER oder John Travolta in PULP FICTION. Alain Delon war als EISKALTER ENGEL unwiderstehlich; Tony Curtis war sich für den FRAUENMÖRDER VON BOSTON nicht zu schade; und Robert De Niro hat es als schießwütiger TAXI DRIVER zu Ruhm gebracht. Bei uns: keine Gesichter, keine Rollen, kein Mut.

George verleiht nun dem Unfaßbaren ein Gesicht. Wobei es durchaus den Reiz des Films ausmacht, daß man nie genau weiß, ob sein Haarmann wirklich so dumm ist, wie er tut, oder nur so dumm tut, wie er muß, um für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Genauso wie sich der Zuschauer immer fragt, ob der Gutachter so fragt, wie er muß, oder nur, wie er will. Folgt er einem damals üblichen Muster oder einem persönlichen Interesse? Am Ende war es ohnehin egal, weil der Professor nicht zuletzt unter dem Druck der öffentlichen Meinung auf zurechnungsfähig plädierte. Im Dezember 1924 wurde Haarmann 24mal zum Tode verurteilt und am 15. April 1925 in Hannover hingerichtet.

All das, was der Film (aus guten Gründen) ausspart, läßt sich in der umfangreichen Dokumentation nachlesen, die Karmakars Co-Autor Michael Farin herausgegeben hat: „Die Haarmann-Protokolle“. Neben dem vollständigen Gesprächsverlauf, worauf der Film basiert, finden sich da auch das Gutachten des Professors, die Urteilsbegründung, Erinnerungen des zuständigen Polizeiinspektors und des Strafverteidigers sowie ein psychiatrischer Kommentar aus heutiger Sicht, den die Mitherausgeberin Christine Pozsàr angefertigt hat. Sie kommt zu dem Schluß, daß selbst unter damaligen Gesichtspunkten an seiner Zurechnungsfähigkeit zu-mindest hätte gezweifelt werden müssen.

Das Buch ist kaum weniger spannend als der Film. Es lebt von der Einsicht, daß das wirkliche Leben viel verstörender sein kann als die härtesten Thriller. Literatur ohne Netz und doppelten Boden: Hier kann man sich nicht damit trösten, alles entspringe nur der Phantasie eines sadistischen Autors. Man wird mit dem konfrontiert, wozu Menschen in der Lage sind. Und gerade durch die Tatsache, daß die Prosa meist völlig schnörkellos daherkommt, grinst einem diese Erkenntnis noch viel unbarmherziger ins Gesicht. True Crime eben. Aber Romuald Karmakar und Götz George verleihen dem Fall noch einmal eine ganz andere Wahrheit, die des großen Kunstwerks.

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