SWEETHEART von Michel Deville
Das Spiel vom Fragen
Ein Mann und eine Frau sitzen am Seeufer. Es ist die Zeit des Abschiednehmens. Sie werden vom Ehemann der Frau beobachtet. Da sagt der Mann: „Darf ich mir vorstellen, Ihnen einen Kuß zu geben?“ Und die Frau schließt die Augen, legt den Kopf im Sonnenlicht zurück und wendet ihm ihr Profil zu, damit er es sich besser vorstellen kann.
Derselbe Mann, eine andere Frau. Sie steht im Abendkleid in der Küche und steigt aus ihrem Schlüpfer. Dabei erklärt sie ihm: „Man trägt doch keinen Slip unter einem so engen Kleid.“ Später, wenn die beiden tanzen, wird er ihren tief ausgeschnittenen Rücken hinabtasten und sagen, er suche den Abdruck des Gummibandes. Die Vorstellung ihrer Nacktheit unter dem Kleid hat ihn nicht verlassen.
Vorstellungen wie diese, Gedanken und Andeutungen erzählen die Geschichte dieses Films. Was man sieht, ist nicht die Hälfte dessen, was eigentlich passiert. Und was passiert, ist nur ein Teil von dem, was man sehen kann. Von Andrew Coburnes Kriminalroman SWEETHEART über einen Undercover-Job bei einem Mafioso bleibt bei Michel Deville nicht mehr übrig als von der Spur eines Dampfers auf dunkler See. Der Regisseur ist mehr an den Eisbergen interessiert, die diese Fahrt gefährden. Ständig beschleicht einen das Gefühl, daß man allenfalls die Spitzen der Geschichte zu Gesicht kriegt. Den Rest muß die Imagination der Dunkelheit entreißen.
Mit Unordnung und jähem Leid beginnt es. Kurz hintereinander kreuzen verschiedene Fahrzeuge das Bild. Ein gelber Käfer und ein roter Jeep, ein Jaguar und ein Simca, ein Heu- und ein Lieferwagen setzen den Film gleichzeitig in Gang. Noch ehe die Geschichte begonnen hat, ist sie schon in verschiedene Richtungen zerstoben. Ein weißes Pferd, das reiterlos eine Bergstraße hinabtrabt, tut ein übriges, dem Film einen etwas ziel- und zügellosen Eindruck zu verleihen.
Das Pferd ist offenbar auf der Flucht vor einem Feuer. Ein Haus in den Bergen ist in Flammen aufgegangen. Darin, so heißt es, seien die Eltern eines Mannes umgebracht worden, der in Zürich mit unsauberen Geschäften zu viel Geld und Ansehen gekommen ist. Das Verbrechen ist für Interpol ein wilkommener Anlaß, dem Mann einen Inspektor ins Haus zu schicken, der sich weniger mit dem Tod der Eltern als mit dem Leben des Sohnes befassen soll. Aber erstens durchschaut der Mann den Inspektor sofort, und zweitens hat man bei Interpol genau damit gerechnet. Einsätze werden gemacht, Steine verschoben, Figuren geopfert. Am Ende weiß keiner mehr, ob er Spieler oder Figur ist, ob er noch am Zug ist oder gerade selbst gezogen wird.
Der größte Spieler ist natürlich Michel Deville selbst. Was man bei seinen beiden Kollegen Godard und Greenaway, die ebenfalls gerne Rätsel aufgeben, beobachten kann, findet sich auch bei ihm: Je ernster seine Filme genommen werden, desto vergnügter treibt er Scherze. Zweideutigkeiten, Kalauer und andere Kurzschlüsse haben seine Geometrie der Leidenschaften schon in GEFAHR IM VERZUG (1984) und DIE VORLESERIN (1988) zu einer fröhlichen Wissenschaft gemacht. Besonders die Schnittstellen zwischen den Szenen versieht er gerne mit Hinter-, Doppel- oder Unsinn, indem er sehr Entlegenes oder ganz Naheliegendes zusammenbringt. In der Vergangenheit entstand dabei manches Mal der Eindruck, er wolle damit etwas überspielen.
Tatsächlich gibt es bei Deville eine gewisse Ungerührtheit im Ausdruck, eine Herzenskälte, die vom Kalkül seiner Konstruktionen herzurühren scheint. Der Bewegtheit seiner Kamera kann man ansehen, wie verzweifelt sie sich um Lebendigkeit bemüht. Mit kurzen Zooms beugt sie sich vor, mit kleinen Schwenks blickt sie zur Seite. Sie gibt Hinweise oder legt falsche Fährten, als wäre sie selbst Teil des Spiels. In ihrer Gestik gleicht sie den Figuren, die ebenfalls gerne mehrere Deutungen zulassen: Was ist Abwehr und was Zuneigung, was Schutz und was Offenheit, was Spaß und was Ernst?
Ein Spiel vom Fragen betreiben die Figuren, und dazu gehört, daß sie gerne auch die Antworten vorwegnehmen. Früher, sagt der Agent von Interpol über seinen Gegner, seien Typen wie der mit einem scharfen Metzgermesser auf der Straße herumgelaufen. Heute ist das Verbrechen ein Gesellschaftsspiel. Und auch die Liebe ist darin nur ein Pfand.
SWEETHEART, das ist auch die Geschichte einer Frau (Mathilda May) zwischen zwei Männern, zwischen Verbrecher und Ermittler. Deville vermeidet es, daraus eine Ehefarce um Untreue und Verrat zu machen. Es ist ein zartes Neigen von Herzen zu Herzen, ein Vortasten und Zurückschrecken, Abwägen und Ausweichen. Die intimste Geste bleibt darauf beschränkt, daß der Inspektor der Frau das Blut vom Fuß küßt, nachdem sie sich auf den Ufersteinen geschnitten hat. Mehr als geraubte Küsse wird nicht gewährt in diesem Film.
Versonnenheit liegt in SWEETHEART in den Bewegungen der Schauspieler, eine Haltung, die man sonst nur in Musicals findet. Das mag daran liegen, daß die Hauptrollen von Jacques Dutronc und Patrick Bruel gespielt werden, deren Ruhm hauptsächlich auf ihren Sangeskünsten gründet. Melancholisch und fast träumerisch bewegen sie sich durch diesen Film, Vergnügtheit und Verzagtheit immer nah beieinander. Traurige Räuber und Gendarmen sind sie alle, und es kann durchaus passieren, daß diese Männer in Momenten der Schwäche die Stirn aneinanderlehnen – wie Kinder, wie Liebende.
TOUTES PEINES CONFONDUES heißt der Film im Original: Alle Schmerzen sind darin je nach Lesart verschmolzen, verwirrt, verwechselt, verwischt. Das Leben hält sich eben nicht an Spielregeln.