01. Juni 1989 | Tempo | Filmkritiken, Rezension | Das Spinnennetz

Vor 30 Jahren führte uns der Regisseur Bernhard Wicki über DIE BRÜCKE. Jetzt lockt er uns in DAS SPINNENNETZ, ein Film-Epos über das Aufkeimen des Nationalsozialismus.

Der Tag danach. Am großen runden Mittagstisch im Hotel „Martinez“ herrscht Katerstimmung, Reste der Premierennervosität vom Vorabend, die so leicht besoffen macht. Bernhard Wicki und seine Frau Agnes Fink, die Schauspieler Armin Mueller-Stahl und Elisabeth Endriss, die Übersetzerin, die Betreuerinnen und Pressetanten, alle sind sie leiser als nötig, sehr ernsthaft und sehr vorsichtig.

Die Galavorstellung von Wickis SPINNENNETZ bei den Filmfestspielen in Cannes lief nicht nach Wunsch. Der Beifall war flau gewesen, die Aufnahme bei den Smokingträgern mäßig. Jetzt wird diskutiert und analysiert, abgewogen und abgewiegelt. Man könne nicht erwarten, sagt Wicki, daß ein so schwieriges Thema einhellige Zustimmung finde. Gerade die Kontroverse sei ihm wichtig. Bei Tisch pflichtet man ihm erleichtert bei. Mit der Lesart können sie leben. Zehn Jahre Arbeit, und jetzt ist Zahltag. Aber zehn Jahre kann einem keiner zurückzahlen.

Ist denn nach so langer Arbeit das Urteil der Öffentlichkeit überhaupt noch wichtig, Herr Wicki? Ja, sagt er, schließlich seien seine Filme fürs Publikum gemacht. Zehn Jahre hin oder her, da kann man drauf wetten, daß dieses Scheißpublikum spätestens dann wichtig wird, wenn du am frühen Abend mit schweißnassem Kragen durch ein Spalier von Hunderten von Schaulustigen über den roten Teppich zum Festival-Palais hinaufsteigst.

Auf der Nobelhotelmeile vor dem „Martinez“, wo die Plakate protzen und mit schnellen Attraktionen locken, wirkt DAS SPINNENNETZ wie ein Fanal aus einer anderen Zeit. Die Erinnerung daran kann einen einholen wie ein eisiger Luftzug, wie ein Grabeshauch. Ein Geruch, der uns seit den letzten Wahlen wieder vertraut vorkommen müßte.

Eine deutschnationale Karriere wird im SPINNENNETZ entworfen, vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Hitlerputsch 1923, eine Geschichte von Mord und Totschlag. Als Vorlage diente Wicki der erste Roman des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth, der erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg wiederentdeckt wurde. Wicki hat Roths Kolportagegeschichte detailbesessen in Szene gesetzt. Es heißt, er habe extra ein vier Hektar großes Feld mit Spezialweizen bepflanzen lassen, um die 1,20-Meter-Höhe der pommerschen Weizenfelder von 1923 zu erreichen. Als die Spitzen bei den Dreharbeiten noch grün waren, ließ er sie gelb spritzen. Ein Anspruch, der von den Mitarbeitern Geduld und vom Regisseur selbst enorme Kraft erforderte. Bernhard Wicki ist damit von der Statur her reichlich ausgestattet worden. Jahrzehntelang galt er als starker Mann des deutschen Kinos. Noch heute steht er wie ein Monolith in der Filmgeschichte.

Als er 1959 mit dem Kriegskinder-Film DIE BRÜCKE sein Spielfilmregiedebüt feierte, war er schon eine Generation älter als das spätere junge deutsche Kino. Danach ging Wicki nach Hollywood, arbeitete mit Marlon Brando, Yul Brynner und Ingrid Bergman und litt unter den Produktionsbedingungen. Aber er war im Geschäft. Dann kam ein Geschwür. Krebsverdacht. Das war 1965. Als er 1968 zurückkehrte, gehörte er erst recht zu einer anderen Generation. Für einen Mann seines Talents und Rufs waren die Chancen, die man ihm seither bot, unter Niveau. Ohne Fernsehen ging wenig. Er verfilmte Peter Handke, Günter Herburger, Alfred Andersch und Joseph Roth. 1971 DAS FALSCHE GEWICHT, jetzt DAS SPINNENNETZ – einen großen Kinofilm, aber in der Struktur dem Fernsehen verpflichtet.

Es ist schwierig, für Wicki einen Platz in der Kinolandschaft zu finden. Zu den Jüngeren zähle er sich selbst, sagt Wicki. Er sei auch mit vielen von ihnen befreundet. Etwas heimatlos wirkte er schon als Schauspieler, das war seine Qualität. Diese von Unruhe getriebene Melancholie, diese zweifelnde Energie und noble Müdigkeit standen seinem gewaltigen Körper gut zu Gesicht. Das Staunen über die eigene Präsenz prägte seine Auftritte. Auch heute noch, im „Martinez“. Müde und gezeichnet von den endlosen Schwierigkeiten, beherrscht doch eine fast jugendliche Verständnislosigkeit gegenüber der eigenen Wirkung seine Erscheinung. Nichts scheint ihm so leicht zu fallen, wie es sein Aussehen nahelegen möchte. Die Worte muß er von weit herholen, und einmal ausgesprochen, scheint er ihnen nachzublicken, neugierig darauf, ob oder wie sie ankommen. Das ist für einen Interviewer kein unbedingt ergiebiges, aber ein bewegendes Schauspiel.

Seine Frau fragt: „Bernie, möchtest du noch einen Nachtisch?“ Ja, eine Crème Caramel. Ein alter Mann von bald 70 Jahren. Er läßt Dinge geschehen, er kann es sich leisten. Den Film DAS SPINNENNETZ hat er allem zum Trotz noch gemacht. Und plötzlich ist der Unzeitgemäße ganz aktuell. Seine Verfilmung aus der Vorgeschichte des Nationalsozialismus, diese Karriere eines Speichelleckers, der Blut geleckt hat, kommt genau richtig in unsere Zeit, da der Nationalismus nach ein paar Wahlen ebenfalls Blut geleckt zu haben scheint. Und das Urteil des Publikums, Herr Wicki, die Kritik? „Wissen Sie, die jahrelangen Vorbereitungsarbeiten, die vielen Probleme, das war eine schwere Zeit, sicher…aber es hat sich gelohnt.“

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