12. März 1994 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Die Sieben Zufälle

Politik des Zufalls

Eric Rohmer hat der Gegenwart aufs Maul geschaut

„Ich habe“, sagt Rohmer, „wenig Zeitungen gelesen. Seit den Ereignissen im Osten tue ich es. Und ich schaue fern.“ Weil ihn dennoch das Gefühl beschlich, damit seine Zeit zu vergeuden, beschloß er, das Gesehene und Gelesene zu einem Film zu verarbeiten. Aber: „Vielleicht habe ich mich getäuscht. Anstatt die Zeitungsartikel auszuschneiden und die Kontroversen anzuschauen, hätte ich vielleicht Proust wieder lesen sollen.“

Wer glaubt, daß es bei Rohmer deshalb nun um Politik geht, hat sich getäuscht. Viel eher handelt Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek von den Redensarten und Sprechweisen, mit denen der einzelne Mensch Politik betreibt, und davon, wie er argumentiert, artikuliert, gestikuliert. Auf die gleiche Weise haben Rohmers Filme über die Liebe vor allem von der Politik der Gefühle erzählt und davon, wie der einzelne mit ihnen umgeht. Daß Rohmer schon immer politisch war, sieht man daran, daß er genauer als irgendwer sonst in seinen Filmen immer das Klima der jeweiligen Zeit eingefangen hat, mit einem Blick dafür, wie und wo sich die Gegenwart artikuliert.

Kein Schlagabtausch

Es wird also, wie in der Politik, viel geredet, aber dabei kann man die Aufmerksamkeit durchaus schweifen lassen. Es nicht zu tun, hieße, den Figuren auf den Leim zu gehen. Denn wer ihr Gerede für bare Münze nimmt, der versäumt das, worauf es Rohmer ankommt: zu zeigen, daß die Menschen immer mehr sind als ihre Absichten. Und die Welt immer mehr ist als nur Wille und Vorstellung. Besonders in der Politik.

Der sozialistische Bürgermeister von Saint-Juire (Pascal Greggory) will in seiner Gemeinde ein Sport- und Kulturzentrum errichten, der Lehrer des Ortes (Fabrice Luchini) ist darüber entsetzt. Der eine sieht in der Urbanisierung die Zukunft des Landes, der andere darin den Untergang. Aber weil dies ein Film von Rohmer ist, kommt es keineswegs zum Schlagabtausch. Der Lehrer hält sich gegenüber den Machenschaften der Politiker sowieso für ohnmächtig und hält lieber Frau und Tochter erzürnte Vorträge: daß man zum Beispiel für Architekten die Todesstrafe wieder einführen sollte.

Zur Architektur hat Rohmer seine ganz eigenen Ansichten. In einem Interview mit den Cahiers hat er erklärt, er sei gegen die Vermischung von Altem und Neuem, gegen Projekte wie die Louvre- Pyramide: ‚Das Ideal wäre gewesen, ein Paris in konzentrischen Kreisen zu bewahren: eine mittelalterliche Insel in der Mitte, dann das Paris des 17. Jahrhunderts, dann das des 19. usw.‘

Man kann sich also ausmalen, daß er am Projekt der Mediathek, die sich in eine Dorfwiese fügen und traditionelle Bauweisen mit Beton vermischen soll, wenig Gefallen finden würde. Aber es geht ihm gar nicht darum, in dieser Sache Politik zu machen, und er läßt den Figuren ihre Standpunkte – das ist seine Art der Demokratie. In der Politik geht es schließlich wie in der Architektur und im Filmemachen um die Organisation des Raums und darum, wie sich Menschen darin bewegen. So spiegeln sich in der Art, wie der Film zwischen der Vendée und Paris pendelt, ganz beiläufig auch die Beziehungen zwischen der Hauptstadt und der Provinz, die den politischen Diskurs in Frankreich prägen.

Der Bürgermeister ist selbst hin- und hergerissen zwischen seinem Amt auf dem Land und der Parteizentrale in der Stadt, was er gegenüber seiner Geliebten (Arielle Dombasle) auch immer wieder wortreich ausführt. Später kommt dann noch eine Journalistin (Clémentine Amouroux) auf den Plan, die einen Artikel über das Dorf schreibt, aus dem ihr Chefredakteur wiederum die Äußerungen des Bürgermeisters, für den sie durchaus Sympathien hatte, herausstreicht und nur die Tiraden des Lehrers übrigläßt. Was aber auch kein Drama ist. Zumindest nicht, was die Erzählung angeht.

Es ist wie im wirklichen Leben: Nicht alles führt sofort zum Konflikt, zur Intrige, zum Duell. Die Leute reden, und manchmal hat das Auswirkungen, meistens jedoch nicht. Wenn am Anfang der Lehrer seiner Klasse erklärt, wie man Nebensätze mit „wenn“ baut, dann heißt das bei Rohmer noch lange nicht, daß auch ein „dann“ folgt. Obwohl der Regisseur gerade damit sein Spiel treibt, denn sein Film ist in sieben Kapitel eingeteilt, die jeweils mit einer Schrifttafel beginnen. Zum Beispiel: „Wenn die Silberweide auf der Gemeindewiese nicht wundersamerweise dem Ansturm der Jahre standgehalten hätte…“

Dann wäre alles ganz anders gekommen, scheint Rohmer den Zuschauer ergänzen lassen zu wollen. DIE SIEBEN ZUFÄLLE heißt sein Film auch im Untertitel, aber er will damit keineswegs künstlich einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herstellen, sondern viel eher darauf hinweisen, auf welch tönernen Füßen die Überzeugungen seiner Figuren stehen. Und darauf, wieviel Unwahrscheinliches erst passieren muß, ehe sich das Leben überhaupt zu so etwas wie einer Geschichte aufrafft.

Die Kamera macht kein Aufhebens von sich. Die Bilder sind, von gelegentlichen Zooms abgesehen, beinahe unbewegt und geradezu aggressiv schmucklos. Andererseits sind die Farben dadurch genauso ausgewaschen, wie das auf dem Land eben ist, wenn dem Frühling noch der feuchte Winter in den Knochen steckt. Doch manchmal leuchten unvermutet Farben auf: in einer geschützten Blume im Garten, in der Wandfarbe im Klassenzimmer oder auf den Lippen der Journalistin. So wie inmitten der ganzen Beredsamkeit plötzlich ein Moment der Magie aufblüht: Da sitzt dann die kleine Tochter des Lehrers, die dem Bürgermeister gerade aus eigenen Stücken einen ziemlich frühreifen Vortrag gehalten hat, auf einer Gartenbank und freut sich, weil sie von ihm gelobt wird. Ein kleines Mädchen, das stolz und etwas verlegen lächelt. Das ist jenes wunderbare grüne Leuchten, das es nur bei Rohmer gibt.

(In München im Isabella und Theatiner, wo er um 18.15 Uhr auch in der untertitelten Originalfassung läuft.)

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