11. März 1994 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Die Akte

DIE AKTE von Alan J. Pakula

Wer ist diese Frau?

Amerika mag schon mit dem Mord an John F. Kennedy seine Unschuld verloren haben, aber wirklich begriffen hat es das erst durch den Sturz von Richard Nixon. Es gab, so erkannte man da, in diesem Land Kräfte, die weder dem Feind noch dem Volk dienten, sondern allein an der Erhaltung ihrer Macht interessiert waren. Ein Netz aus Korruption und Intrige durchzog die Demokratie, und alle Organisationen und Komitees waren auf einmal mit Hintermännern und Drahtziehern durchsetzt. Das war die Zeit, als die Wirklichkeit anfing, die Erfindungen in den Schatten zu stellen.

Die Filme, die den Teufel am detailliertesten an die Leinwand malten, waren unter anderem Coppolas DER DIALOG und Sydney Pollacks DIE DREI TAGE DES CONDOR. Es waren Filme von Robert Altman und Michael Ritchie, William Friedkin und John Frankenheimer, in denen es in der Politik nicht mehr um Visionen, sondern nur noch um Images ging, um Verschleierung und Verunsicherung. Vor allem aber Alan J. Pakula drehte zwischen 1971 und 1976 drei großartige Filme über jenes Gefühl der Paranoia, das Alpträume Wirklichkeit werden ließ: „KLUTE, THE PARALLAX VIEW (ZEUGE EINER VERSCHWÖRUNG) und ALL THE PRESIDENT’S MEN (DIE UNBESTECHLICHEN), zu dem er sagte, Watergate habe aus dem Alptraum von PARALLAX VIEW einen Dokumentarfilm gemacht. Und die Wirklichkeit aus der Lüge eine Wahrheit.

Nicht nur weil John Grisham in seinem Roman „The Pelican Brief“ auf E DREI TAGE DES CONDOR anspielt, kann man annehmen, daß er diese Filme gesehen hat und daß sie sein Bild von der Wirklichkeit geprägt haben. Mitte der achtziger Jahre fing der Anwalt selbst mit dem Schreiben an und hat bis heute vier Romane veröffentlicht, die weltweit etwa zwanzig Millionen Auflage haben: „Die Jury“, „Die Firma“, „The Pelican Brief“ („Die Akte“) und zuletzt „The Client“, aus dem Joel Schumacher gerade einen Film macht. Die mittleren beiden Bücher sind wiederum von Pollack und Pakula verfilmt worden, was einen merkwürdigen Verdoppelungseffekt ergibt, der noch dadurch verstärkt wird, daß Grisham beim Schreiben von THE PELICAN BRIEF bereits Julia Roberts vor Augen hatte. Von den Filmen der siebziger führt also ein Weg zu den Büchern der achtziger und von dort weiter zu den Verfilmungen der neunziger Jahre.

Die Bilder blenden sich übereinander; aber daraus resultiert nicht etwa ein Interesse für die Überlagerungen und Verschiebungen, sondern eine Unschärfe, in der die Figuren und ihre Ziele langsam verschwimmen. Wo einst in THE PARALLAX VIEW die Abweichung zwischen zwei Perspektiven für Spannung sorgte, da gibt es nun kaum mehr Parallaxen. Statt dessen wird möglichst alles zur Deckung gebracht.

Zwei Richter des Obersten Gerichtshofs der USA sind ermordet worden, und einer Jurastudentin (Julia Roberts) gelingt es, beim Aktenstudium jemanden zu finden, der nicht nur ein Motiv, sondern auch die Macht und die Beziehungen hat, diese Morde ausführen zu lassen. Als ihr Geliebter (Sam Shepard) von einer Autobombe getötet wird, weiß die Studentin, daß die Akte mit ihren Ergebnissen in die falschen Hände geraten ist. Sie ahnt allerdings nicht, daß sogar der Präsident ein Interesse daran hat, die Akte verschwinden zu lassen. So ist sie bald auf sich gestellt, gejagt von Gaunern und Geheimdiensten, und vertraut sich nur sehr zögernd einem Reporter (Denzel Washington) an, der über eine ganz andere Quelle auf diese Geschichte aufmerksam geworden ist. Auf diese Weise versammelt der Film ein ums andere Motiv aus jenen Filmen der siebziger Jahre, in denen sich die Handlung wie in einer Spirale auf ein leeres Zentrum zubewegte – auf den Punkt, an dem die Protagonisten aus der Geschichte verschwinden und die Handlung wie von selbst ihren Lauf nimmt.

In DIE AKTE heißt es am Schluß: „Wer ist diese Frau?“ Und in der Tat hat man im Verlauf des Films nicht viel über sie erfahren. Julia Roberts ist zwar ein ansehnliches Opfer, aber ihre Rolle füllt sich eher mit den Schicksalen ihrer anderen Filmfiguren als mit einer eigenen Geschichte. Der Feind liegt allerdings nicht nur in ihrem Bett, er ist überall. Das kann Pakula immer noch sehr gut: Bilder finden für die allgegenwärtige Bedrohung, die in gewöhnlichen Hotelzimmern genauso lauert wie im Oval Office des Präsidenten, in den Korridoren der Macht genauso wie im Trubel des Karnevals von New Orleans. In dieser Welt der Überwachungskameras und Computerfahndungen hat das Individuum kaum eine Chance. Die Individualität, die der Heldin dabei abgeht, können sich nur die Mächtigen leisten. Pakulas Darsteller nutzen das für einige schöne Charakterzeichnungen am Rande: Robert Culp als amerikanischer Präsident, Tony Goldwyn als sein Berater oder Hume Cronyn als siecher Richter. Da ist der Film dem Buch überlegen.

Ansonsten beweisen all die Bestseller-Verfilmungen der letzten Zeit nur, daß die Macht der Buchautoren dem amerikanischen Thriller nicht guttut. Nicht nur, weil die Millionen für die Rechte sich amortisieren und die Filme sich an die Vorlagen halten müssen, sondern auch weil die Autoren schon mit dem Blick aufs Kino schreiben. Diese wechselseitige Anpassung scheint beide Seiten daran zu hindern, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen. Die Bücher nehmen die Filme vorweg, die Filme hecheln den Büchern hinterher, und das Kino sieht bei alledem ziemlich alt aus.

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