Woody Aliens Stadt der Grauen
RADIO DAYS und die Träume vor 50 Jahren
Herreinspaziert, meine Damen und Herren! Willkommen in Woodys großem Bilderbogen der kleinen Scheusale und großen Versager, der phantastischen Nichtigkeiten und nichtigen Phantasien. Wollen Sie wissen, wie es den Einbrechern bei Nadelmanns erging, als das Telephon klingelte? Können sie sich vorstellen, was Onkel Abe passierte, als er an Yom Kippur zu den kommunistischen Nachbarn ging, um sich über die laute Musik zu beschweren? Haben Sie eine Ahnung, warum Mr. Zipsky nur in Unterhosen, aber mit einem Fleischennesser schreiend durch die Nachbarschaft lief? Sehen Sie große Schicksale von kleinen Leuten, erleben Sie ein buntes Gemisch grauer Existenzen, entdecken Sie die Monstrositäten des Alltags. Das Leben ist ohnehin schon langweilig genug. Also hereinspaziert!
Woody Aliens RADIO DAYS ist ein Zirkus mit den Attraktionen der Gewöhnlichkeit, eine Arena der Anekdoten, Episoden und Fußnoten. Allen hat sein Zelt wieder einmal in Brooklyn aufgeschlagen, in dem Nest Rockaway auf Long Island, in der Gegend des heutigen John-F.-Kennedy-Flughafens. Und die Kuppel darüber gehört auch dazu: das ganze Firmament der Stars und Sternchen, deren Stimmen in den großen Tagen des Radios den Äther bevölkerten. RADIO DAYS ist eine liebevolle Hommage des Kinos ans Radio, der Bilder an die Töne, und: Aliens an Fellini.
Schon einmal, mit STARDUST MEMORIES, hat sich Woody Allen an Fellini versucht Doch sein 9 1/2 wies allein schon durch seine Präsenz als Hauptdarsteller in eine andere Richtung. Jetzt ist er bei der Nummer 15 1/2 seiner Karriere als Regisseur angelangt und hat mit RADIO DAYS sein Amarcord gedreht. Der Titel von Fellini entstammte einer mundartlichen Zusammenziehung von „lo mi ricordo“. „Ich erinnere mich“ ist auch das Programm von RADIO DAYS, der mit dem Satz beginnt: Jch liebe alte Radiogeschichten; ich kenne tausende davon.“ Und dann fährt die Stimme des Erzählers (die bei uns seinem gewohnten Synchronsprecher und im Original Allen selbst gehört) fort .Jetzt ist alles vergangen – außer den Erinnerungen.“ Aber so sehr sich Allen bemüht so deutlich die Parallelen auch sein mögen: ihn und Fellini trennen diesselben unüberbrückbaren Kluften wie das Absurde und das Groteske, das Neurotische und das Erotische. Die hoffnungslose Liebe zu dem Italiener erwidern Aliens Filme dann gottlob doch nicht.
Wo Fellini die Realität mit dem Phantastischen überzeichnet die Welt in einem Zerrspiegel präsentiert, begnügt sich Allen mit der phantastischen Realität er betrachtet sein Personal nur durch eine Lupe. Beim einen stehen die monströsen Wucherungen fürs Ganze, beim anderen schnurrt die ganze Biographie zu alltäglichen Monstrositäten zusammen. Was bei Fellini schwer wiegt und verstörend aussieht gewinnt bei Allen eine wunderbare Leichtigkeit und zeugt von einer verzweifelten Versöhnlichkeit. Auf Aliens Jahrmarkt sieht man nichts als Banalitäten und reibt sich doch immer wieder verwundert die Augen. Woody Allen ist vermutlich der kleinlauteste Jahrmarktschreier der Welt.
Es riecht nach Fisch
In Rockaway ist er als Erzähler so weit entfernt und so milde gestimmt wie noch nie. In der Distanz der Erinnerung, im nostalgisch verklärten Blick zurück, verschleifen sich alle Kanten. Die Erlebnisse seiner Kindheit fügen sich widerstandslos in die Biographie des Erzählenden, sitzen fest verzahnt in einem riesigen Räderwerk, das sich leise knirschend dreht und dreht ohne etwas anderes als sich selbst anzutreiben. Und nebenher spielt das Radio, den ganzen Tag, und ölt das Getriebe mit den Songs von Cole Porter, Benny Goodman, Tommy Dorsey oder Glenn Miller.
Es riecht nach Fisch in Rockaway, der Wind treibt vom Meer den Regen vor sich her. Der Himmel der Erinnerung ist ständig bedeckt und die Wohnungen von einem warmen Licht erhellt. In der Küche putzt Onkel Abe Plattfisch oder Hecht Kusine Ruthie hat ihr Handtuch zu einem Turban gewunden und tanzt zu den exotischen Klängen eines Songs von Carmen Miranda. Der Großvater arbeitet sich wieder einmal ab bei dem Versuch, die Großmutter in ihr Korsett zu zwängen, der Vater liest Zeitung und verkündet wieder eine neue aussichtslose Idee, wie man zu Geld kommen kann. Tante Bea bereitet sich zum hundertsten Mal ohne Erfolg auf ein Rendezvous vor, die Mutter strickt und lauscht ihrer Lieblingssendung „Frühstück mit Irene und Roger“, die mondänen Klatsch vom Vorabend austauschen, und der kleine Joe versucht vergeblich Geld aufzutreiben für den begehrten Geheimring des maskierten Rächers. Eine ganz normale jüdische Familie in einem ganz normalen kleinbürgerlichen Nest in Brooklyn, während ganz weit weg Bomben auf Pearl Harbour fallen. Das Leben ist hier, aber das bessere Leben ist vielleicht anderswo – vielleicht im Radio.
Tante Bea oder sein Vater sind dem kleinen Joe kaum näher als der maskierte Rächer oder Biff Baxter, ttep jede Wochee ein Abenteuer gegen die Nazi-Ratten zu bestehen hat. Joe, das ist natürlich Allen selber, und der Wind der Erinnerung trägt aus der Vergangenheit Fetzen vom Großfamilien- und Radio-Alltag gleichermaßen. Neben dem Erlebnis mit den kommunistischen Nachbarn, deren Tochter an die freie Liebe glaubt, erfährt man von Roger und Irene und ihren Liebschaften, die „so modern waren, daß sie in einer Hotelsuite in Havanna ein gemeinsames Wochenenden zu dritt verbrachten“. Und genauso bedeutend wie die Schläge vom Rabbi, der nicht versteht daß man das Geld aus der Sammelbüchse lieber für den Geheimring des Rächers als für
den Aufbau des Staates Israel verwendet sind die Schicksalsschläge des Zigarettenmädchens Sally, das so unbeirrt naiv seine Karriere verfolgt, dass es am Schluß wirklich ein Star wird.
RADIO DAYS erzählt aber noch von einem ganz anderen Traum, einer Illusion vielleicht. Woody Allen will von jeher so souverän erzählen wie Tolstoi, so ernst sein wie Tschechow. Seine Filme sind der ständige Versuch, sein Material so umfassend und sicher wie möglich in den Griff zu kriegen. Dafür hat er sich Produktionsbedingungen erarbeitet, von denen andere nur träumen können. Zwei bis vier Monate Dreharbeiten, dann anderthalb Monate Arbeit an einem Rohschnitt, noch mal drei bis vier Wochen Nachdreh und ein weiterer Monat Schnitt bis zur Endfassung. Weder sein Studio noch seine Schauspieler haben Einblick in das gesamte Projekt, der Titel wird erst ganz zum Schluß festgelegt und nur Allen allein weiß, wie alles zusammengehört.
Das hat möglicherweise auch damit zu tun, dass er sich am liebsten gar nicht festlegen würde. Das endlose Feilen und Überarbeiten eines Stoffes, das ihn mit seinem Vorbild Flaubert verbindet, zeugt auch von seinem unbedingten Wunsch, ganz in seinem Material aufzugehen. Am liebsten möchte er sich so weit von seiner Geschichte entfernen, dass er in ihr überall präsent ist Wie sehr er seine Filme beherrscht, merkt man eigentlich erst so richtig in einer Szene, wo Tante Bea am Küchentisch ihrem Liebhaber in spe, der sich kurz darauf als Homosexueller entpuppt ein Glas Milch einschenkt. Als sie die Flasche wieder zurückstellt trennt sich vom Rand ein Tropfen und läuft herab auf den Tisch. Da erschrickt man fast über diese Unkontrolliertheit die sich da in der sonst offenbar so umfassenden Inszenierung auftut.
RADIO DAYS ist eine Gratwanderung zwischen dem Verlust der erzählerischen Identität durch Angleichung an den Stoff und der Bewahrung eines persönlichen Stils. Als Regisseur scheint Allen dauernd den Zelig in sich bekämpfen zu müssen. Wenn man so will, werden seine Filme immer belangloser, scheinen sich an manchen Stellen fast in Nichts aufzulösen. Aber gerade indem er aus der Banalität des Alltags erzähltes Leben macht erreicht er eine Gelassenheit die ohne jede künstlerische Angestrengtheit daherzukommen scheint; und die doch abgesteckt wird durch ihren Abstand zu den Erfindungen, den Träumen, den Illusionen. Im Grunde hegt die ganze tröstliche Melancholie von RADIO DAYS in dem einen Satz der Mutter zum Vater: „Ich frage mich, ob du mit Rita Hayworth glücklicher geworden wärst.“
(In München im Odyssee, Leopold, Karlstor und im Original im ABC.)