25. Dezember 1992 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Mein Bruder Kain

MEIN BRUDER KAIN von Brian De Palma

Schwarze Spiegel

Ein Mann und eine Frau in einem Auto. Sie sind Nachbarn und haben ihre Kinder vom Spielplatz abgeholt. Der Mann erzählt von der Arbeit seines Vaters, der wie er selbst Kinderpsychologe ist und in Langzeitbeobachtungen der Entwicklung der Persönlichkeit bei Kindern auf die Spur kommen will. Ob die Nachbarin ihren Sohn an dem Projekt teilnehmen lassen würde, fragt der Mann. Als sie ablehnt, betäubt er sie mit Chloroform. In diesem Moment erscheint sein Alter ego und bedrängt den Mann, die Frau zu beseitigen. Sonst werde er die Sache selbst in die Hand nehmen. Währenddessen schlummern die Kinder auf der Rückbank.

Rückblende: In Michael Powells Film PEEPING TOM (1959) war Karlheinz Böhm Opfer eines Vaters, der sein Kind als Versuchskaninchen mißbrauchte. Mitten in der Nacht wurde der Sohn aus dem Schlaf gerissen und sein verstörter Blick im grellen Licht des Scheinwerfers mit einer Kamera aufgenommen. Wenn der Junge später mordete, filmte er jedesmal das Entsetzen seiner Opfer im Angesicht des Todes. Powells Film wurde zu seiner Zeit verachtet: Er hatte ein Tabu verletzt.

Auch Brian De Palma ist nichts heilig. Nicht einmal der Schlaf eines Kindes kann verhindern, daß die Welt zum Alptraum wird. Schlafen bedeutet eigentlich, der Welt zu vertrauen. Wer schläft, verläßt sich darauf, daß beim Erwachen noch alles intakt ist. Bei De Palma kann der Schläfer nicht einmal mehr mit dem Erwachen rechnen. Seine Filme sind ein Sturz von einem Alptraum in den nächsten. Selbst am Ende erreichen sie nie den Punkt, an dem man sagen könnte: Es war alles nur ein böser Traum.

Niemand hat unser Vertrauen in das Kino und seine Geschichten nachhaltiger erschüttert als Brian De Palma. Wo bei David Cronenberg die Welt von innen heraus verwandelt wird, da bleibt De Palma an der Oberfläche. Nicht Verfall und Verwesung bezeichnen bei ihm den Horror, sondern die gläserne Transparenz der Dinge, die Durchsichtigkeit vortäuscht, wo sie in Wirklichkeit nur den Blick reflektiert. Darum wimmelt es in seinen Filmen von Spiegelungen und Vexierbildern, Doppelgängern und Transvestiten.

MEIN BRUDER KAIN ist die Geschichte einer multiplen Persönlichkeit. Der Mann und sein mörderisches Alter ego sind nur zwei der Rollen, die von John Lithgow gespielt werden. So wie PEEPING TOM und Hitchocks NORMAN BATES nur zwei der Vorbilder sind, auf die sich dieser Film bezieht. Im Grunde ist auch De Palmas Werk ein Fall von multipler Persönlichkeit. Seine Geschichten folgen keiner geraden Linie, sondern einer Spirale. Dabei drehen sie sich so oft um sich selbst, bis sie wie die Feder einer Uhr so gespannt sind, daß ihre Bewegung automatisch in Gang gehalten wird. In diesen Filmen klingt selbst das Ticken der Uhr wie Paukenschläge. Nicht das Nacheinander der Bilder interessiert De Palma, sondern das Über, Neben- und Untereinander. Früher hat er dafür die Effekte des Split screenVerfahrens verwendet, durch das man mehrere Bilder gleichzeitig sehen kann. Später hat er angefangen, die Zeit einfach zu dehnen, am furiosesten in der Eisensteinschen Treppensequenz der UNBESTECHLICHEN (1987), in der viele nur den Treppenwitz der Filmgeschichte sehen wollten und nicht den Wahnwitz visueller Gestaltung, der sichtbar macht, was man nicht sehen kann.

Auch in MEIN BRUDER KAIN gibt es ein fulminantes Finale, in dem die Ereignisse weniger Sekunden sich ins Endlose dehnen. „Augenblick, verweile doch“, sagt De Palma. Und fährt dann diabolisch grinsend fort: „Du bist so schrecklich!“

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


17 + zehn =