19. Juni 1992 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Julia und ihre Liebhaber

JULIA UND IHRE LIEBHABER von Jon Amiel

Radio Days

Im Jahr 1962 lebte Mario Vargas Llosa in der Pariser Rue de Tournon und schrieb an zwei Romanen gleichzeitig. Er hatte sich vorgestellt, der tägliche Wechsel vom einen zum anderen würde „erfrischend, verjüngend“ sein. Das Gegenteil war der Fall. Die beiden Geschichten „verschwammen zu einem seltsamen, gegensätzlichen Traum, bei dem sich nicht mehr ohne weiteres sagen ließ, wo sich jeder befand, wer wer war und wo die eine Welt aufhörte und die andere begann“. Er beendete daraufhin sein Doppelleben und verbrachte die nächsten drei Jahre damit, die beiden Welten zu dem Roman „Das grüne Haus“ zu verschmelzen.

„La tia Julia y el escribidor“ erschien 1977 und erzählt mehr oder minder autobiographisch von der Liebe des jungen Peruaners Mario zu seiner fünfzehn Jahre älteren Tante Julia – und von seiner Verehrung für Pedro Camacho, einem Autor von Hörspielserien, der von einem unerklärlichen Haß auf alles Argentinische angetrieben wird. Der Roman springt zwischen der unwahrscheinlichen Romanze von Tante und Neffe und den Episoden der Radioserie, die dem Verfasser nach und nach völlig aus dem Ruder läuft, hin und her. Es gehört nicht viel dazu, sich auszumalen, daß der Roman „Tante Julia und der Kunstschreiber“ auf Vargas Llosas Erfahrungen in der Rue de Tournon basiert.

Vor sechs Jahren strahlte die BBC die Fernsehserie THE SINGING DETECTIVE aus, in der der Krimiautor Philip Marlowe mit einer ekelhaften Hautkrankheit im Sanatorium liegt und sich Geschichten ausdenkt. Mal geht es darin um einen Detektiv, mal um Marlowes eigene Jugend und ab und zu auch um Patienten, Ärzte und Schwestern im Krankenhaus. Je länger die Serie dauert, desto verwirrender vermischen sich die Geschichten und ihre Figuren. Geschrieben wurde THE SINGING DETECTIVE von Dennis Potter, Regie führte Jon Amiel.

Er habe sich, sagt Amiel, „schon immer für den Bereich interessiert, der zwischen Wachen und Schlafen liegt, wo Imagination und Realität aufeinandertreffen“. Man kann sich also leicht vorstellen, was den britischen Regisseur an Vargas Llosas Roman fasziniert hat: der Umschlag von der Wirklichkeit in die Fiktion, jene Traumpfade, auf denen die Wahrnehmung blindlings jeder Lüge hinterherläuft. Fürs Drehbuch wurde William Boyd verpflichtet, dessen Roman „New Confessions“ ebenfalls virtuos zwischen Realität und Imagination pendelt; die Hauptrollen spielen Peter Falk als Kunstschreiber, Barbara Hershey als Tante Julia und Keanu Reeves als ihr Neffe. Im Original hieß JULIA UND IHRE LIEBHABER ursprünglich TUNE IN TOMORROW, zu deutsch: Schalten Sie morgen wieder ein.

Detroit 1951. Ein Blatt wird eilig aus der Schreibmaschine gezerrt, eine Explosion zerreißt das Dunkel, ein Schatten flüchtet aus den Flammen. Dann verliest ein Radiosprecher im Chaos der Brandbekämpfung die Titel des Vorspanns. So begibt sich der Film auf das Niveau seiner Erzählung. – New Orleans, ein halbes Jahr später. Der Kunstschreiber Pedro Carmichael fängt beim betulichen Radiosender WXBU an. Binnen kürzester Zeit lassen seine Seifenopern den Kaffee in den Tassen der Hörer kalt werden. Schon die erste Folge setzt Maßstäbe: Auf der Hochzeit der Schwester (Elizabeth McGovern) gesteht der Bruder (Peter Gallagher) seinem Onkel (John Larroquette) nicht nur, daß er die Schwester liebt, sondern auch, daß das Kind, das sie erwartet, von ihm ist. So geht es weiter: geile Priester, aufgefressene Babys, unklare Familienverhältnisse. Was in der Vorlage die Argentinier einstecken mußten, bekommen hier die Albaner ab. Carmichael dichtet dem Volk alle möglichen Unarten an, vom unangenehmen Körpergeruch bis zu widernatürlichen Sexualpraktiken. Auch durch die Tatsache, daß die Frau des Bürgermeisters Albanerin ist, läßt er sich nicht davon abbringen, weiter Öl ins Feuer zu gießen.

Trotzdem erklärt das wildgewordene Genie vollmundig, ohne einen Schuß Realität sei Kunst nicht denkbar. Deshalb tut er alles, um die Leidenschaft zwischen der Tante Julia und ihrem Neffen Martin gegen alle Widrigkeiten am Brennen zu halten: „I feel reality impacting here!“ Er ermöglicht den beiden ein Rendezvous in seiner Wohnung, um sie heimlich belauschen und ihre Worte anderntags seinen Figuren in den Mund legen zu können. Das Leben, behauptet Jon Amiels Film, ist kein Roman, sondern eine Seifenoper. Beim Kitsch kennt Carmichael keine Kompromisse: Er verkleidet sich als französisches Hausmädchen, als Chirurg oder Rabbi, um seine Figuren besser verstehen zu können. So schaukeln das wirkliche Leben und der serielle Unfug einander auf, bis feststeht: Es gibt ein wahres Leben im falschen. Eskalation ist die Methode, mit der Carmichael und sein Regisseur der Vernunft den Boden unter den Füßen wegziehen. Mit blühendem Unsinn und gezielter Tabuverletzung erreichen beide ihr Ziel, jene charmante Utopie, wonach die Kunst das Leben und das Leben eine Kunst ist. Und am Ende kann der Erzähler, der alle Fäden in der Hand hält, zu den Liebenden sagen: „Ohne mich würdet ihr immer noch im Kino Händchen halten.“

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