01. Oktober 1993 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Le jeune Werther

LE JEUNE WERTHER von Jacques Doillon

Unordnung, frühes Leid

Wo Goethe aufhört, fängt Doillon an. Der Franzose hat den WERTHER nicht verfilmt, sondern sich seinen Reim darauf gemacht. Das Buch ist in seinem Film nicht mehr als ein Fluchtpunkt, in dem ein paar Fäden der Handlung zusammenlaufen LE JEUNE WERTHER, das ist keine Geschichte über den Tod, sondern ein Film über das Leben.

Ein Junge wird aus dem Unterricht geholt. Draußen warten der Direktor und die Schwester eines Freundes. Sie stellen Fragen über den Freund, aber der Junge weiß nichts. Seit der Freund sitzengeblieben ist, hätten sie nicht mehr so oft Kontakt gehabt. Wozu die Fragen, will er wissen. Der Freund habe sich erhängt, erfährt er, und niemand weiß warum.

Im Schulhof scheint die Sonne. Man hört den Wind in den Bäumen, dann von fern ein Akkordeon. Der Junge weint. Der Direktor sucht Worte des Trosts. Unterdessen ist die Kamera unmerklich nähergekommen und hat den Hintergrund verschwimmen lassen. Die Welt ist vor dem Jungen zurückgewichen, Leere breitet sich aus. Dies ist eine Geschichte vom Ende der Kindheit, ein kurzes Verharren an der Schwelle zur Jugend. Ein Riß geht durch die Welt, und hinterher ist nichts mehr wie zuvor. Ein Freund hat sich umgebracht. Was das bedeutet, weiß eigentlich keiner so recht. Man sitzt nach der Schule zusammen, ratlos. Man lauscht nach innen und versucht, die Stimme des Herzens zu hören. Man übt sich in Gesten der Trauer, man trauert. Dabei fragt man sich, wie weit man den eigenen Gefühlen eigentlich trauen kann. Man stellt sie auf die Probe, als wäre es ein Testfall für all die anderen Gefühle: Liebe zum Beispiel.

Doillons Helden sind keine petits criminels, keine kleinen Gangster, sondern Gymnasiasten aus dem fünften Arrondissement, Achtklässler vermutlich. In einem Interview mit den Cahiers du Cinéma hat Doillon erzählt, einige seiner jungen Darsteller hätten gezögert, den Film ihren Eltern zu zeigen, weil die sonst sehen könnten, daß ihre Kleinen in Sachen Liebe und Alkohol längst keine Kinder mehr sind. Diese Anekdote illustriert sehr anschaulich den Bruch in ihrer Welt. Sie befinden sich in einem Niemandsland, allein mit sich und ihren Gefühlen. Die Erwachsenen können sich in diesem Alter kein richtiges Bild von ihnen machen, und sie selbst können es auch nicht. Ismael, Mirabelle, Theo, Faye, Jessica, Simon und Pierre: Sie alle durchforsten Erinnerung und Phantasie nach Gründen für Guillaumes Tod. Die Lehrer, die Eltern, die Freunde, die Liebe. Wichtiger als die Antwort ist die Art, wie sie in immer neuen Kombinationen zusammenfinden, reden, rätseln, schweigen. Das ist die große Kunst: wie in Doillons Film ganz beiläufig ein Portrait dieser Jahre entsteht.

Der Film gleicht der Wasseroberfläche nach einem Steinwurf. Etwas hat Wellen geschlagen. Die Ursache sieht man nicht mehr, nur die Wirkung. So ist Guillaumes Selbstmord das stille Zentrum, um das dieser Film kreist. Aber es bleibt, wie bei einem Reigen, leer. Was den Film ausmacht, sind die Worte und Gesten, mit denen hier Leben eingeübt wird. Das Karussell des Herzens dreht sich schnell in diesem Alter. Ständig wird verliebt und verlassen, geworben und geprahlt. Alles ist ernst, aber nichts wiegt schwer. Erste Fragmente einer Sprache der Liebe werden sichtbar: „Kann man mit einer gehen, die man nicht liebt, und eine lieben, mit der man nicht geht?“

Ismael verliebt sich in die Trauer. Das kommt bei den Mädchen gut an. Die anderen Jungen machen sich schon lustig über ihn. Da hat er eine Idee: Eine verzweifelte Liebe war der Grund. Er erinnert sich an ein Photo. Es zeigt ein blondes Mädchen, vermutlich beim Gottesdienst entdeckt, wo Guillaume die Nacken der Mädchen bewunderte. Man klappert die Kirchen ab und findet ein blondes Mädchen. Als man sie anspricht, erinnert sie sich nur vage. Auf jeden Fall will sie mit der Sache nichts zu tun haben. Ob sie die Richtige ist oder ob sie überhaupt der Grund war, interessiert Ismael gar nicht. Er verliebt sich in die Idee – und in das Mädchen.

LE JEUNE WERTHER erzählt die Identifikation einer Frau mit fünfzehn. Ihr Gesicht erzählt Ismael die Geschichte seines toten Freundes und die Geschichte seiner nächsten Liebe. Man merkt ihm an, daß er versucht, den Riß zu kitten, die Leere zu überbrücken. Er will sich wiederfinden in der Welt, und dafür ist ihm alles gut genug: der Freund, das Mädchen, die Trauer, die Liebe. Oder ein Buch, das ihm ein Freund in die Hand drückt. Darin geht es auch um einen Typen, der sich aus Liebe zu einer Frau umbringt.

Doillons Film endet nicht wie Goethes WERTHER. Aber das Ende ist wie der Anfang des Buches. Vielleicht ist Doillons Film gar kein Nachspiel, sondern ein Vorspiel zu Goethes Geschichte. Und vielleicht spielt das auch keine Rolle, weil Doillon ein so geschicktes Spiel mit der Liebe treibt, daß er auf Goethe pfeifen kann.

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