08. November 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Hierankl

Die Heimat der Herzen

Wer riskant spielt, gewinnt: Hans Steinbichlers bemerkenswerter Debütfilm HIERANKL zeigt Bayern, wo es am schönsten ist

Jeder Film, der von der Beziehung seiner Helden zu Orten redet, ist ein Heimatfilm. Im Grunde kann auch ein Road Movie ein Heimatfilm sein, weil er von einer Sehnsucht nach Orten lebt, die sich aus der Differenz zur Heimat speist. Das Genre lebt also nicht von den Daheimgebliebenen allein, sondern vor allem von Ausreißern und Rückkehrern, deren Blick eine andere Schärfe hat. „Home is where your heart is“, sagt man in Amerika, um den Leuten den Abschied von der Heimat zu erleichtern, als sei das Herz tatsächlich nur ein einsamer Jäger. Dabei ist Heimweh keine Krankheit, sondern der Beweis, daß das Herz am rechten Fleck schlägt.

Schon der Titel zeigt in HIERANKL an, daß Regisseur Hans Steinbichler keine Geschichte erzählen will, die leicht über die Lippen geht, sondern einen Film gedreht hat, der dem Zuschauer im Halse steckenbleibt. Dieser Felsbrocken von einem Wort bezeichnet ein Gehöft in den Chiemgauer Alpen, unterhalb der Kampenwand bei Aschau, wo Bayern so schön ist, daß man fast vergißt, daß dort Stoiber regiert. Hierhin kommt Lene (Johanna Wokalek) zurück, um den sechzigsten Geburtstag ihres Vaters zu begehen. Dreizehn Jahre war sie in Berlin, und schon daran kann man ablesen, daß sie einen guten Grund hatte wegzugehen. Und wenn sie wiederkehrt in den Hof ihrer Eltern, in die Landschaft ihrer Kindheit, dann merkt man schon an der Art, wie sie das Treppengeländer umfaßt, einen alten Baum erklettert, in einen Waldsee springt, durch die Gegend radelt, daß sie nie vergessen hat, wo sie herkommt, auch wenn sie es noch so sehr versucht hat. Jene Beklommenheit, welche die Rückkehr mit sich bringt, findet ihr Ventil in der Natürlichkeit, mit der sich Lene in und um Hierankl zurechtfindet. Damit aber keine Zweifel aufkommen am Wesen dieses Heimatfilms, hat Steinbichler die Szenen mit Songs von Raz Ohara unterlegt, der dem malerischen Panorama eine andere Lesart unterschiebt.

Um jedwedem Eindruck von Bajuwarenseligkeit vorzubeugen, muß man vielleicht erwähnen, daß die Schauspieler Johanna Wokalek, Barbara Sukowa, Peter Simonischek, Frank Giering und Alexander Beyer allesamt keine Sekunde lang zu verschleiern versuchen, daß sie nicht aus Bayern stammen. Ihr mal so und mal anders gefärbtes Hochdeutsch verleiht dem Film eine Künstlichkeit, die nur deswegen nicht stört, weil Sepp Bierbichler den Ton angibt und so quasi das Unternehmen legitimiert. Alle Fremdartigkeit, alles Befremden wird von ihm zum einen fast magnetisch umgepolt, und zum anderen sorgt gerade die unrealistische Sprechweise seiner Mitspieler für Abstraktion. Der Heimatfilm wird seiner Wurzeln entledigt und erkennbar als artifizielles Konstrukt, als Studie über Zufall und Schicksal, Liebe und Familie, Verstrickung und Entfremdung.

Lene also kommt nach Hierankl, aber jeder Anflug von Wiedersehensfreude ist getrübt durch allerlei Irritationen. Erst sieht sie aus dem Zug beim Zwischenhalt in Rosenheim den Vater (Bierbichler) mit einer jüngeren Freundin, dann begegnet ihr die Mutter (Sukowa) mit atemberaubender Kühle, und schnell erfährt man, daß sie ebenfalls einen jüngeren Liebhaber (Beyer) hat, dessen Präsenz auch gar nicht verheimlicht wird. Daß er der beste Freund des Sohnes (Giering) ist, scheint niemanden zu stören. Die Eltern haben sich offenbar mit ihren Verhältnissen arrangiert und überspielen ihren Schmerz mit schneidenden Bemerkungen. Der Vater sagt über sein Verhältnis zur Mutter, sie seien wie zwei Ozeanriesen, die sich langsam voneinander entfernten: Man sieht sich noch, aber man spürt nichts mehr. Was er nicht weiß: daß beide in eisiges Gewässer unterwegs sind. Und daß das mit dem Freund (Simonischek) zu tun hat, der sich zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder sehen läßt.

Der Geburtstag steht an, ein Wochenende auf dem Lande, gemeinsame Essen, langsame Annäherung, giftige Bemerkungen. Eigentlich darf man nicht verraten, wie sich die Dinge entwickeln, weil es dem Film die überraschende Wucht nimmt, mit der er seine Personen nicht nur verstrickt, sondern so tief in das Geflecht aus heimlicher Liebe und offenem Verrat stürzt, daß einem bald der Atem stockt. Daß die Tochter mit dem alten Freund des Vaters etwas anfängt, ist noch das Geringste. Steinbichler schont nichts und niemanden, und wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann allenfalls, daß er manchmal die Spuren in die dunkle Vergangenheit etwas zu deutlich sichtbar macht.

Die famose Kamera von Bella Halben nimmt die Handelnden mit ihrer Brennweite gefangen, linst manchmal wie zufällig um die Ecke, tastet sich heran und schafft es, selbst die exzentrischen Perspektiven so zu wählen, daß stets die Landschaft zu ihrem Recht kommt. Den Schauspielern verleiht diese Methode eine zusätzliche Präsenz, weil es ja nicht um Natürlichkeit geht, sondern um ihre Mühen, die Landschaft als zweite Natur zu begreifen. Denn nicht Verwurzelung ist das Thema, sondern die Frage, wieviel die Wurzeln zählen, wenn man anderswo zu Hause ist.

Es war ein riskantes Spiel, auf das sich Steinbichler eingelassen hat, indem er bekannte Gesichter besetzte. Aber gerade diese Distanz macht er fruchtbar: die feingliedrige Wokalek, die schwarzäugige Sukowa, den graumelierten Simonischek, den selbstgewissen Bierbichler. Gerade letzterer, der alles zusammen- und am Ende nichts in Händen hält, gibt dem Film einen Tonfall, dem man sich bedingungslos anvertrauen kann. Wenn er die Tochter begrüßt, den Geliebten der Frau verulkt, die Glückwünsche entgegennimmt, den Sohn anspricht, den Freund empfängt, stets besitzt er eine verführerische Autorität, mit der sich das deutsche Kino sonst schwertut. Solche Figuren kennt man sonst nur aus dem Western, dem radikalsten Genre aller Heimatfilme.
Steinbichlers Kunst besteht darin, die Theatralik von Stoff und Darstellern nicht zu leugnen und doch reines Kino zu schaffen. Damit erinnert er ein wenig an Fassbinder, dem es ebenfalls stets gelang, den extremsten Gefühlen eine Form zu verleihen, die sie mit kinematographischen Vorbildern versöhnte. Und so wie Fassbinder dem tausendfach Gesehenen neue Perspektiven abgerungen hat, schafft es auch Steinbichler, mit HIERANKL einen Heimatfilm zu drehen, der in den Gesichtern seiner Schauspieler jene Heimat findet, die sonst nur das Herz ist.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


8 + fünfzehn =