09. November 2003 | Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung | Filmkritiken, Rezension | Vom Westen unberührt

Durch die Wüste

Vom Bauernsohn zum Bildermacher: Raymond Depardon und sein Film VOM WESTEN UNBERÜHRT

Dies ist die Geschichte eines Bauernjungen aus der Gegend zwischen Bresse und Beaujolais, der ausgezogen ist, das Fürchten zu lernen, und dabei die Liebe seines Lebens gefunden hat. Mit achtzehn war Raymond Depardon für einen Kollegen bei der Fotoagentur „Dalmas“ eingesprungen, um Fotos vom Algerienkrieg zu schießen. Heute weiß er: „Die Wüste hat mir unglaubliches Glück gebracht. Es ist eigentlich schrecklich, das zu sagen, weil wir auf Leute gestoßen sind, die verdurstet sind. Aber die Fotos erschienen in ,Paris Match‘ und wurden sehr gelobt – das war der Beginn meiner professionellen Karriere.“

Wenn er das so erzählt, dann fällt es schwer, den freundlichen, runden Bauernschädel mit den schiefen Zähnen mit seinem Abenteurerleben in Verbindung zu bringen. Aber statt zuzusehen, wie der Hof seiner Eltern in Villefranche-sur-Saône verfällt, ist er hinausgezogen in die Welt: Algerien, Tschad, Chile, Kolumbien, Vietnam, Biafra, Rhodesien, Libanon. Er war überall, wo es brannte, bis er selbst ausgebrannt war. Als sein Kollege Gilles Caron, mit dem er die Agentur „Gamma“ gegründet hatte, in Kambodscha ums Leben kommt, ändert sich sein Blick auf die Welt. Aus dem Bilderjäger wird ein Sammler, aus den Fotoserien werden Bücher, aus den Aufträgen entstehen Filme, und von der Dokumentation wechselt er zur Fiktion. Als Fotograf ist er weltberühmt, als Dokumentarfilmer preisgekrönt, und nun hat er seinen dritten Spielfilm, VOM WESTEN UNBERÜHRT, gedreht, der wie die vorangegangenen in der Wüste spielt. Was zieht jemanden, der in der ganzen Welt zu Hause ist, immer wieder dorthin?

„Es ist seltsam: In der Wüste habe ich keine Angst. Obwohl es ein gefährlicher Ort ist und man sehr aufpassen muß. Der Tod ist stets präsent, und man weiß, wenn man zwei, drei Tage nichts trinkt, wird man sterben. Das ist auch eine Art Versuchung. So bin ich vor den Dreharbeiten alleine losgezogen, obwohl ich weiß, daß man das nicht machen soll. Es war ein wenig, als ob man den Teufel herausfordern wollte. Ich habe mal einen Film gesehen über Bauern in den Cevennen, die sagten: Wo es schön ist, kann man sterben. Ich fand den Satz sehr wahr. Die Wüste ist ein Ort, wo ich bereit bin, zu sterben.“

Vor zehn Jahren war Depardon auf das Buch mit dem Titel „Un homme sans l’occident“ gestoßen, das ein junger Offizier der französischen Kolonialarmee namens Diego Brosset 1946 veröffentlicht hatte. „Ein Mann ohne Abendland“ gilt als einer der ersten ethnozentrischen Romane, der die Sicht des anderen, des Gegenübers einnimmt, eines jungen Jägers in der Sahara, der von den Weißen aus seinem Paradies vertrieben wird. Depardon hat in siebenmonatiger Arbeit im Tschad daraus einen Film gemacht, der die Fremdheit nie leugnet. Eine knappe Erzählstimme, keine Dialoge, viel Schweigen, noch mehr Sand. Ein wenig erinnert VOM WESTEN UNBERÜHRT an seine Fotobände, wo die Bilder auch immer nur mit knappen Kommentaren versehen sind. Es gibt malerische Aufnahmen, trotzdem ist der Film nicht pittoresk, sondern von asketischer Strenge. Dafür hat Depardon nach seinen beiden Farbfilmen, UNE FEMME EN AFRIQUE und LA CAPTIVE DU DÉSERT, zum ersten Mal in Schwarzweiß gedreht:

„In Wahrheit läßt sich die Wüste nicht filmen. Unmöglich. Was man filmt, ist immer das Gegenteil dessen, was man sieht. Deshalb wollte ich zurück zur Einfachheit der Stummfilme von Murnau und Flaherty. Bei meinen Farbfilmen fand ich, daß es zu schnell zu schön wirkt. Der Himmel, der Sand, dessen Farbe mit dem Alter wechselt. Je älter er ist, desto wechselhafter. In der Vorstellung der Leute ist der Sand ja weiß, in Wirklichkeit ist er aber eher lachsfarben.“
Man sieht also Jäger und Nomaden, die naturgemäß weniger Schauspieler als Darsteller sind, Statisten für die Umsetzung des Romans: „Ein Casting kann man dort nicht machen. Das widerspricht der afrikanischen Mentalität. Ich habe schnell verstanden, wie das dort läuft. Wenn ich sagte, ich brauche zwanzig Frauen, dann kamen vierzig. Wenn ich zehn Kamele wollte, brachten sie zwanzig. Ich habe irgendwann gesagt: Ich zahle dieselbe Summe, egal ob Mann oder Frau, Esel oder Kamel.“ Gerade was die Tiere angeht, ist der Film von einer Ungerührtheit, die ganz ungewohnt ist, seit kein Abspann ohne die Versicherung auszukommen glaubt, daß bei den Dreharbeiten keine Tiere zu Schaden gekommen seien. Kamele werden drangsaliert, Gazellen gejagt, Hunde erschossen: „Für die Szenen mit dem Kamel hatten wir einen Anästhesisten. Zuerst haben wir die Betäubung an einem Esel ausprobiert, der ist aber leider nicht mehr aufgewacht. Also haben wir beim Kamel nur die halbe Dosis benutzt. Gelegentlich wurde mir schon vorgeworfen, das sei Tierquälerei, aber als Bauernsohn hat man ein weniger romantisches Verhältnis zu den Tieren. Sie sollen nur nicht unnötig leiden. In Afrika schert man sich ohnehin nicht darum. Als das Kamel betäubt war, kamen gleich Leute und fragten, ob sie es haben können. Es war klar, daß sie das Tier essen wollten. Es war aber mein Kamel. Natürlich ist dieser Umgang ungewohnt: Denn bei Disney werden die Tiere natürlich nie gegessen.“ Eine Art Autoporträt nennt Depardon seinen Film, was um so erstaunlicher ist, als es darin keine Identifikationsmöglichkeiten gibt. Das Selbstbildnis funktioniert eher über die Wüste als Seelenlandschaft. „Die Wüste ist ja auch ein Vorwand. Sie steht für jene Fremdheit und Menschenferne, die ich oft selbst empfinde. Erst langsam merke ich, wie obsessiv meine Beschäftigung mit ihr immer war. Als mit dreißig mein Leben, das ich der Fotografie und dem Journalismus gewidmet hatte, aus dem Gleichgewicht geraten war und ich auch meine Beziehungen zu Frauen überdenken mußte, habe ich mir gesagt, ich werde die Lösung in der Wüste finden und nehme deshalb die Frauen, die ich liebe, in die Wüste mit. Als würde die Wüste alles regeln. Das ist natürlich Unsinn. Das war nur eine Flucht. Ich kann ja nicht ewig in der Wüste bleiben. Man kann also meine Beziehung zur Wüste schwierig nennen. Erst allmählich finde ich meinen Frieden, und meine Besessenheit läßt nach. Vielleicht ist das jedoch gefährlich, weil man als Cineast ja gerade davon lebt.“

VOM WESTEN UNBERÜHRT wird noch faszinierender, wenn man darin den Versuch eines weitgereisten Bauernsohnes sieht, sich im Spiegel der Wüste zu erkennen. „Es ist so, als könnte ich von der Wüste aus besser sehen. Aus der Wüste erkennt man das Wesen der Leute, begreift ihren Schmerz, lernt sie besser kennen. Es ist, als würde erst die Wüste einen philosophischen Blick erlauben.“