06. November 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Sein Bruder

Kein Gramm Fett zuviel

Der lange Abschied: Patrice Chéreaus Film SEIN BRUDER rückt dem Menschen auf nie gesehene Art zuleibe

Das Kino meint es gut mit Patrice Chéreau: Vergangenes Jahr gewann er in Berlin mit INTIMACY den Goldenen Bären, dieses Jahr wurde er für SEIN BRUDER mit dem Silbernen Bären als bester Regisseur ausgezeichnet. Danach war er Jurypräsident in Cannes, und nun wartet er, daß er endlich seinen NAPOLEON mit Al Pacino machen kann. Für jemanden, dessen Bayreuther „Ring“ als Jahrhundertinszenierung gilt und dessen Heimat die Bühne war, hat seine Karriere eine ziemlich erstaunliche Wendung genommen.

Ob es sich dabei wirklich um eine glückliche Fügung handelte, war nicht immer so klar wie jetzt. Zu oft verfielen Chéreaus Filme irgendwann doch der Theatralik, suchten ihr Heil in Dialogen, wo es völlig genügt hätte, den Bildern zu trauen. Lange Zeit schienen die Filme irgendwie ein Abfallprodukt seiner Bühnentätigkeit, vielleicht auch nur, weil man sich mit der Einordnung solcher Mehrfachbegabungen immer schwertut. Jetzt ist Patrice Chéreau jedenfalls im Kino angekommen.

SEIN BRUDER ist sozusagen reinstes Antitheater, kein Satz zuviel, alles nur Gesten, Blicke, stumme Anteilnahme. Zwei Brüder, Thomas (Bruno Todeschini) und Luc (Eric Caravaca); der Ältere hat eine seltene Krankheit, die ihm den Lebensmut raubt. Sie kann ihn heute töten oder morgen oder nie. Man kann daran sterben, aber man kann auch damit leben – daran jedoch glaubt Thomas nicht. Wenn der Film beginnt, hat die Krankheit schon seit einem halben Jahr die Oberhand gewonnen, die Freundin (Nathalie Boutefeu) hat Thomas bereits aufgegeben, und der jüngere Bruder Luc ist plötzlich der einzige Halt, obwohl die zwei einander stets völlig fremd waren. Davon erzählt Chéreau, von Krankheit und Fremdheit, von langsamer Annäherung und einem langen Abschied.

Der Vater der beiden sagt einmal, die Krankheit habe den falschen Sohn befallen. Er meint es nicht so, er will damit eigentlich sagen, daß er dem Jüngeren eher zugetraut hätte, damit fertig zu werden, aber es klingt unnötig brutal. Man kann sich auf einmal vorstellen, wie die Verhältnisse vor der Krankheit gewesen sein müssen, als der Jüngere der Familie den Rücken gekehrt hat, weil er immer der Schwächere, der Schwule war. Von dieser Umkehrung der Verhältnisse berichtet der Film. und Chéreau verzieht sozusagen keine Miene dabei. SEIN BRUDER ist so spröde, wie es die Filme von André Téchiné manchmal sein können, die ähnlich mitleidslos sind, weil sie auf falsches Mitgefühl pfeifen.

Chéreau macht keine Konzession, die Schwierigkeiten der brüderlichen Beziehung muß man sich weitgehend selbst zusammenreimen, aus spärlichen Gesten und verschlossenen Gesichtern. Es gibt keine Musik, die irgend etwas akzentuieren würde, nur die unbeholfenen Gesten der schwierigen Verständigung, die tastenden Blicke zweier Menschen, die auf verschiedenen Planeten lebten. Man merkt schon an der Art, wie sich der Ältere plötzlich dem kleinen Bruder aufdrängt, ohne wirklich präsent zu sein, wie tief das Desinteresse ist. Man ahnt aber auch, welche Enttäuschungen der Jüngere hinter sich haben muß, weil er erst einmal kaum mehr an den Tag legt als eine gewissermaßen emotionale Pflicht. Aber auch beim Sex mit seinem Lover (Sylvain Jacques) zeigt er nicht mehr Zuneigung als nötig. Luc ist ein Mann, der es aufgegeben hat, sein Herz zu öffnen, und der sich in seiner Verschlossenheit eingerichtet hat.

Der Film hat etwas Quälendes in seinem Beharren auf stummer Präsenz, in seinem Starren auf blasse Gesichter in trübem Licht. Aber natürlich führt diese Radikalität auch dazu, daß man für die feinsten Regungen, die kleinsten Verschiebungen im veränderten Kräfteverhältnis sensibilisiert wird. Man ist es so gewohnt, daß im Erzählkino die Emotionen immer fein säuberlich in Ursache und Wirkung unterschieden werden; dabei ist die wirkliche Grammatik der Gefühle wesentlich weniger leicht zu durchschauen. Und auch wenn nicht jeder Blick ein Rätsel und jede Geste ein Mißverständnis ist, so geht doch vieles ins Leere, weil es zu komplex ist. Für diesen Zustand emotionaler Ratlosigkeit finden Chéreau und sein Kameramann Eric Gautier die großartigsten Bilder. Und so kommt man in diesem Film der hohläugigen Blicke, schweigenden Umarmungen und verzweifelten Umklammerungen ganz langsam den Helden näher.

Das gipfelt in einer Szene, die in ihrer Schonungslosigkeit mehr an den Nerven zerrt als jeder Horrorfilm. Da wird Thomas im Krankenhaus für die Operation zurechtgemacht, indem man ihm die Körperhaare abrasiert. Mehr passiert gar nicht. Ein nackter, schwacher Mann wird auf seinem Krankenbett von einer Krankenschwester routiniert enthaart. Seine Gefangenheit, ihre Nüchternheit, die kalte Mechanik, die schutzlose Haut, das alles verbindet sich zu einem so überwältigenden Eindruck von Nacktheit, wie man ihn im Kino noch nicht gesehen hat. Man könnte sogar sagen, daß der ganze Chéreau in dieser einzigen Szene verkörpert ist, die ganze Art, wie er seine Zuschauer zur Anteilnahme verpflichtet und dazu, seinem Blick standzuhalten. Und während das Messer über die feuchten Haare schabt, glaubt man zu verstehen, warum Chéreau das Fach gewechselt hat, warum er sich dem Kino zugewandt hat. Das ist keine Leidenschaftslosigkeit, sondern ein verzweifeltes Bedürfnis, seinen Figuren so nahe wie möglich zu kommen. Und wo schon in INTIMACY sein Blick auf die Körper atemraubend war, da findet er auch in SEIN BRUDER zu einer Körperlichkeit, wie man sie im Kino kaum je spürt. Schon deswegen muß man den Film gesehen haben.