29. Januar 1988 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Good Morning, Babylon

Das Gehirn des Elefanten

Paolo und Vittorio Taviani erzählen ein Märchen aus der Geschichte des Films

Es war einmal ein Mann, der hatte einen Traum. Er träumte von acht weißen Elefanten, die hoch über dem Palast Belsazars in Babylon thronten und mit zum Himmel erhobenem Rüssel auf die Dämmerung der Menschheit hinabblickten. Auf einem Gelände neben dem Sunset Boulevard wollte er einen Film drehen, so groß und ausladend wie die Menschheitsgeschichte selbst. Das war kein bescheidendes Vorhaben, aber der Mann besaß einen guten Ruf und hatte sich in der Branche einen Namen gemacht. Und so hatte er Geld und Möglichkeiten genug, zur Erfüllung seines Traumes die fleißigsten Gehilfen und fähigsten Handwerker zu engagieren. Der Mann hieß David Wark Griffith. Der Film hieß INTOLERANCE. GOOD MORNING, BABYLON ist ein Traum in einem Traum, eine Fußnote zu Griffiths Film, eine Episode am Rande seiner Entstehung.

Es waren einmal zwei italienische Brüder, die hatten einen Traum. Nach Amerika wollten sie gehen und dort so viel Geld verdienen, daß sie bei der Rückkehr ihrem Vater unter die Arme greifen könnten. Die beiden kamen nach Hollywood und fanden dort nach einiger Zeit auch eine Anstellung. Andrea und Nicola Bonanno hießen die beiden Brüder, und ihr Metier war die Wiederherstellung der Geschichte. Als Kirchenrestauratoren hatten sie in der Toskana gearbeitet, als Ausstatter waren sie an INTOLERANCE beteiligt, wo sie von Griffith den Auftrag für acht riesige Elefanten bekamen. Elefanten waren ihre Spezialität. Davon handelt der Film.

Zwei Brüder erzählen ihren Traum. Vom kreativen Prozeß als kollektiver Arbeit, von der Aussöhnung aller Künste, von der Verbindung zwischen Abendland und neuer Welt. Wenn es dort Nacht wird, geht in Amerika die Sonne auf. Wenn der Vater in Italien ins Bett geht, wünscht er seinen beiden Söhnen einen guten Morgen. So fügt der Film Zeit und Raum ineinander. Wie im Märchen bilden alle inneren und äußeren Kräfte ein Gewebe, das noch die entlegensten Episoden umfängt. Da begrüßt der Vater (Omero Antonutti) bei der Hochzeit seiner Söhne deren Mentor D. W. Griffith (Charles Dance), indem er erst einmal einen langen Stock fallen läßt. Nachdem jeder einen langen Moment auf den ersten Schritt des anderen gewartet hat, will sich Bonanno doch selbst nach dem Stock bücken. Aber bei der ersten Bewegung gebietet ihm Griffith mit der Hand Einhalt, kommt Bonanno zuvor und reicht ihm den Stock. Die Szene endet also mit einem glatten Unentschieden, und sie faßt zusammen, was die beiden Brüder über Konkurrenz und Kumpanei zwischen Kunst und Kino zu erzählen haben. Sie heißen Paolo und Vittorio Taviani, und ihre Berufung ist das Autorenkino.

Andrea und Nicola haben ihre Vornamen von zwei Kirchenkünstlern des 13. Jahrhunderts, die Namen ihrer beiden Frauen stammen von Edna Purviance und Mabel Normand, den beiden frühen Chaplin-Heldinnen. Alles hat seinen präzisen Platz bei den Taviani, ihre Konstruktionen sind von gläserner Klarheit. Aber je vernünftiger und klarer dieser Film daherkommt, desto irrationaler beginnt die Macht des Schicksals zu wüten. Und je mehr sich die beiden Brüder auf die filmischen Mittel besinnen, desto näher kommen sie gleichzeitig der Oper, dem Melodram des 19. Jahrhunderts. GOOD MORNING, BABYLON ist so streng symmetrisch angelegt, daß schon der Zufall eingreifen und Schicksal spielen muß, um noch einmal Veränderungen herbeizuführen.

Als Kind hat Nicola (Vincent Spano) ein Messer gewonnen, worüber dann der erste und einzige Streit der zwei entbrannte. Wie zum Ausgleich zieht er später auch das schwierigere Los. Seine Frau stirbt bei der Geburt ihres Kindes, während Andreas (Joaquim de Almeida) Frau und Kind wohlauf sind. Und wieder entzweien sich die beiden, doch diesmal finden sie erst im Tod wieder zueinander, auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.

Im Schlußbild strahlt die Kathedrale, die zerschossen über der Szenerie thront, noch einmal im ursprünglichen Glanz, während man an ihrer Fassade mittelalterlich gewandete Handwerker arbeiten sieht. In einer Zufahrt erkennt man Andrea und Nicola an einem Wandrelief feilen, das einen weißen Elefanten darstellt, aufrecht sitzend, mit zum Himmel erhobenem Rüssel. Die Geschichte endet hier nicht, sie schließt sich zu einem Kreis. Die Kirche, die Brüder, der Elefant, so hat der Film auch begonnen, sechshundert Jahre später. Gegenwart und Vergangenheit, Tod und Schöpfung verschmelzen in diesem Ende. Wie im Traum, wie im Kino, wie in Utopia: „Wir wissen, wenn ein Mann heute für morgen arbeitet, dann beeinflußt das sein Leben und das Leben anderer. Das bedeutet Utopia für uns.“

Wie bei Griffith speisen sich die Utopien der Tavianis aus der Vergangenheit. Ihr Kino hat das Gedächtnis eines Elefanten, es bewahrt die Kontinuität der Geschichte. In Hollywood angekommen, preisen sich die beiden Brüder als Nachfahren von Michelangelo und Leonardo da Vinci an. Natürlich ist „Good Morning, Baylon“ in erster Linie ein Märchen, das von der Kunst und ihren Träumen handelt. Daß die Tavianis ausgerechnet von den Schöpfern der Elefanten erzählen, die in „Intolerance“ irgendwann kurz im Hintergrund zu sehen sind, hat mit eben diesem utopischen Wunsch zu tun: Daß alle künstlerische Arbeit ihren Sinn im Kollektiv erhält, daß alles seinen Platz in der Geschichte hat und nichts vergessen wird. Mit GOOD MORNING, BABYLON haben die Tavianis dem anonymen Künstler ein Denkmal gesetzt.

Am Ende halten die beiden sterbenden Brüder eine Kamera in den Händen, mit der sie einander ein letztes Mal filmen, um ihren Söhnen eine Erinnerung, ein Bild von sich zu hinterlassen. Die Kamera als Elefantenhirn, das ist der Traum der Tavianis.

Was ihrem märchenhaften Film abgeht, erfährt man aus einer anderen Geschichte. Die erzählt Kenneth Anger zu Beginn seiner Skandalchronik „Hollywood Babylon“: Ein Mann hat einen Traum, von weißen Elefanten, von einem Fest am Hofe Belsazars, von Babylon. Aber Anger erzählt im Gegensatz zu den Tavianis auch von dem Stoff, aus dem die Träume sind. Wie 4000 Statisten für zwei Dollar am Tag im Studio herumlungerten, verkleidet als assyrische Krieger und babylonische Tänzerinnen, als Eunuchen und Hofdamen, als Sklaven und Priester. Wie sich zwischen den Bungalows und Orangenhainen Hollywoods ein siebzig Meter hohes Babylon auftürmte. Wie INTOLERANCE, Griffiths großer Sprung ins Ungewisse einer neuen Kunst, beim Publikum gnadenlos durchfiel. Und wie die gigantische Kulisse stehenblieb, vom Unkraut überwuchert, vom Regen aufgeweicht, von der Feuerwehr von Los Angeles zur Brandgefahr erklärt.

Der Schatten Babylons lag über Hollywood, über seinen Studios, Stars und Sternchen. In seinem Zwielicht schuf die Traunfabrik mit Scheinwerfern eine neue Welt: Good Night, Paolo, Good Night, Vittorio.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


eins × 3 =