26. August 1985 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Gefahr im Verzug

Gefährliche Liebschaften

Michel Devilles erotisches Verwirrspiel GEFAHR IM VERZUG

David Aurphet ist Gitarrenlehrer und vergleichsweise unschuldig. Als Held des Film stolpert er in eine Kriminalgeschichte, in der es um Erpressung, Spionage, Entführung und Mord geht. Die Geschichte scheint wie ein Spiel nach Regeln zu funktionieren, die David allenfalls aus Kriminalromanen kennt. Es wird dabei mit hohem Einsatz gespielt: Mikrofilme, viel Geld und ein lästiger Ehemann. Was David als Teilnehmer empfiehlt, ist seine Verführbarkeit. Das heißt für ihn: Wenn er noch glaubt, alle Fäden in der Hand zu halten, zappelt er längst schon im Netz der von anderen ausgelegten Fäden. Seine Arglosigkeit wird ihm fast zum Verhängnis. Hätte er nicht bereits Verdacht schöpfen müssen, als sich ihm die Mutter des Mädchens, dem er Gitarrenunterricht geben soll, allzu bereitwillig in die Arme warf?

Der französische Regisseur Michel Deville liebt Rätsel und Verwirrspiele. Auch in seinem zwanzigsten Film GEFAHR IM VERZUG schickt er den Zuschauer in ein Labyrinth der Indizien und Intrigen, aus dem auch im Nachhinein nur herausfinden kann, wer sich am roten Faden der Geschichte hinaushangelt.

Da gibt es die rein sexuelle Beziehung zwischen David (Christophe Malavoy) und Julia Tombsthay (Nicole Garcia), die von irgendjemand – vermutlich von Graham, Julias Mann – beobachtet und auf Video aufgezeichnet wird, Auf der anderen Seite steht der professionelle Killer Daniel (gespielt von dem DIVA-Puzzler Richard Bohringer), der den Auftrag hat, „einen Mann zu beseitigen und einen Gegenstand zu stehlen“. Der Mann ist Graham (Michel Piccoli) und der Gegenstand, ein Globus mit Mikrofilmen, befindet sich in dessen Besitz. Daneben tauchen noch andere Figuren auf: Edwige (Anémone), die neue Nachbarin der Tombsthays, die das Geschehen amüsiert beobachtet und kommentiert; Vivianne, Julias Tochter, die anfangs vergeblich versucht, David zu verführen; und schließlich Davids Vater, der eine kleine, aber effektive Bombe gebaut hat, mit der am Ende unbequeme Indizien beseitigt werden.

GEFAHR IM VERZUG ist ein großes Schachspiel, bei dem man nie weiß, wer Spieler, Figur oder nur Zuschauer ist. Das einzig Sichere sind in diesem Spiel die Züge, die die Handlung vorantreiben. Anstelle der Psychologie steht also die Konstruktion. Was bei Deville keine Erstarrung der Figuren bewirkt, sondern die Neugier des Zuschauers anstachelt.

Doch die Orientierung wird systematisch behindert, indem die Montage die Grenzen von Zeit und Raum verwischt und durchlässig macht. Deville nutzt dabei unsere Sehgewohnheiten, die Verführbarkeit des menschlichen Auges. Er verbindet zeitlich und räumlich Entferntes, indem er die Schwenkbewegung einer Einstellung in der nächsten fortsetzt oder eine hier gestellte Frage dort beantwortet, als befände man sich noch im gleichen Raum und als sei mittlerweile keine Zeit vergangen. Wir sehen etwa David mit Julia telefonieren und ihn fragen, was er bei ihr vergessen hat. Schnitt, und die nächste Einstellung zeigt Julias Hand mit einer Stimmgabel, so seine Frage beantwortend. Solche Anschlüsse, durch die effektvoll Zeit und Raum übersprungen werden, finden sich zuhauf. Oft erscheinen sie allerdings als bloße Spielerei und die Beschränkung aufs Wichtige nur vorgetäuscht. Das atemlose Tempo, das sie vorgeben, kann der Film nicht immer durchhalten. Dem Originaltitel PÉRIL EN LA DEMEURE (Gefahr beim Verweilen) zum Trotz wirkt manches geradezu langatmig erzählt. Deville verweilt allzu lange bei Szenen, in denen sich frühere Situationen nur wiederholen.

Aber er versteht es, uns für seine Figuren zu interessieren, weil er immer wieder die Frage nach ihren verschleierten Absichten aufwirft: Was verbirgt sich hinter der Melancholie des Killers oder der Verbindlichkeit Grahams? Und, vor allem, welche Rolle spielt die alleinstehende Nachbarin? Diese Figur ist der gelungenste Einfall des Films. In ihr verkörpert sich die Spielerin par excellence, weil sie ihre ganze Umgebung als Spielwiese verwendet. Ein zufällig bereitliegender Stock macht aus ihr eine Hinkende, das Geschehen rund ums Nachbarhaus ist ihr Anlaß, irgendwelche Geschichten zu erfinden, mit denen sie David noch mehr verwirren kann.

Sie fungiert im Film als künstlerische Instanz, die die Bruchstücke der von ihr beobachteten Wirklichkeit zu neuen, eigenen Geschichten zusammenfügt und dadurch der Wahrheit näher kommt als alle anderen Figuren dieses Spiels. Und sie ist es, die am Ende durch einen einzigen Satz mit allen Unklarheiten aufräumt, indem sie David erklärt, worauf es einzig ankommt; „Im Grunde sind Sie als einziger gut davongekommen: reich und geliebt.“

(In München im Filmcasino.)

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