23. August 1985 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | El Sur

Erwachen im ewigen Herbst

EL SUR - der zweite Spielfilm des Spaniers Victor Erice

Was sich hinter verschlossenen Türen abspielt, sind zumeist die Geschichten, die das Kino erzählt. Der spanische Regisseur Victor Erice interessiert sich allerdings mehr für eine andere Geschichte, eine Geschichte vor den Türen. Wichtiger als das Geschehen dahinter ist ihm der Versuch des Mädchens Estrella, darauf einen Blick zu erhaschen. Wodurch sich eine doppelte Bewegung ergibt: einerseits Estrellas Bemühen, das Geheimnis ihres Vaters zu ergründen, und andererseits die Anstrengung des Zuschauers, selber die Anhaltspunkte zu einer Geschichte zu verbinden. Daß uns Erice dabei einen kleinen Vorsprung läßt, raubt uns zwar die kindliche Neugier und verhindert eine allzu leichte Identifikation mit dem Mädchen, doch werden wir dadurch gezwungen, unsere Einbildungskraft zu bemühen, uns selbst in die Kindheit zurückzuversetzen. Das macht aus EL SUR einen ungewöhnlich spannenden Film.

Noch während die Vorspanntitel über schwarzem Hintergrund ablaufen, führt der Film auf verblüffend einfache Weise vor, wie Kino funktioniert. In langsamer Aufblende beginnt sich am Bildrand ein Fenster abzuzeichnen. Was anfangs nur schwarze Fläche zu sein scheint, entpuppt sich allmählich als dunkler Raum. Wenn das Licht dieses Herbstmorgens das Zimmer zu füllen beginnt, gewinnt die Leinwand scheinbar eine Dimension hinzu. Die Illusion, die aus Fläche Raum macht, hat zu wirken begonnen; das Kino hat angefangen. Das ist selbstverständlich nichts Neues, doch in EL SUR eriahren wir es neu, werden zum Nachdenken über Gewohntes gebracht.

Der heraufdämmernde Tag gibt nach und nach Konturen zu erkennen – ein Bett, eine Decke, ein erwachendes Mädchen. Wie in einem Bild von Vermeer beginnen sich die Dinge in eigentümlicher Strenge abzuzeichnen; mit kaltem, blaustichigem Licht meißelt Kameramann Jose Luis Alcaine die Gegenstände aus dem Dunkel. Nur selten kann man im Kino auf so plastische Weise miterleben, wie Licht die Körper und Gegenstände modelliert.

Dieser so schlichte Anfang offenbart eine Menge über die folgenden 93 Minuten, über Tempo und Stimmung des Films, aber auch über Erices Erzählweise. Man sieht die 15jährige Estrella (Iciar Bollan; als 8jährige von Sonsoles Aranguren gespielt) im Morgengrauen erwachen und hört in der Ferne Hundegebell und die Rufe ihrer Mutter nach Agostin, dem Vater. So wird es bleiben: die Handlung, das Leben, scheint sich immer anderswo abzuspielen; man hört es nur aus der Ferne. Dazu vernehmen wir die Stimme einer erwachsenen Erzählerin aus dem Off, die damit beginnt, daß an diesem Morgen alles anders war als sonst – erst am Ende werden wir erfahren warum. Dann sieht man einen Mann am Bett seiner hochschwangeren Frau sitzen und das Geschlecht des ungeborenen Kindes voraussagen. Dies sei das erste Bild, an das sie sich erinnert, sagt die Erzählerin. Aber auch, daß diese Szene von ihr erfunden sei, denn das Kind Estrella sei sie selbst. Dadurch erklärt sich die Erzählperspektive in EL SUR: Es handelt sich um die Kindheitserinnerungen einer Erwachsenen. Aus dieser Sicht lassen sich auch die Szenen verstehen, in denen gezeigt wird, was die kleine Estrella weder sehen noch wissen konnte: etwa wenn der Vater im Kino einen Film mit seiner früheren Geliebten Irene Rios (Aurore Clément) sieht und unter dem Eindruck des Gesehenen im Café einen Brief an sie schreibt. Es sind Rekonstruktionen der Vergangenheit, Vermutungen über den Vater (Omero Antonutti), der ihr bis zu seinem Selbstmord zauber- und rätselhaft zugleich erschien.

Um Estrellas liebende Beziehung zum Vater kreist der ganze Film. Nicht von ungefähr steht sie einmal vor einem Plakat zu Hitchcocks IM SCHATTEN DES ZWEIFELS, in dem es auch um die Verehrung eines jungen Mädchens für einen älteren, geheimnisvollen Verwandten geht. Die Aura, die den Vater umgibt, rührt von seiner Arbeit mit Pendel und Wünschelrute her, mit denen er Bauern beim Aufspüren von Wasseradern hilft. Einst – vor Francos Sieg – hatte er im Süden gewohnt und mußte dann vor den Falangisten in den kalten Norden fliehen. Er ist ein Besiegter, ein Resignierter, der sich von dieser Vertreibung nie wieder erholt hat und für den El Sur, der Süden, unerfüllbare Sehnsucht bleibt. Auch für Estrella ist der Süden Sehnsuchtschiffre – ein Land der Verheißung, wo es nie schneit -, der sie jedoch nach dem Tod des Vaters folgen darf. So ist das Ende eigentlich erst ein Anfang.

EL SUR ist Victor Erices zweiter Spielfilm innerhalb von zehn Jahren. Dazwischen hat er sich als Werbefilmer verdingt, was man dem Film jedoch in keiner Szene anmerkt. Weit davon entfernt, plakativ oder hektisch zu sein, verfolgt er in langsamen Auf- und Abblenden, als müßte die Erzählerin immer aufs Neue die Bilder dem Dunkel ihrer Erinnerung entreißen, seinen Rhythmus. Auch durch Überblendungen, wenn sich bei gleichbleibendem Bildausschnitt nur das Licht ändert, entsteht ein Gefühl vom Verstreichen der Zeit, als handle es sich um einen Wachtraum, in dem sich die Bilder der Erinnerung langsam übereinanderschieben. In einer der beeindruckendsten Einstellungen funktioniert der Zeitsprung über sieben Jahre wie das Durchqueren eines Spiegels: Die Achtjährige radelt eine Allee hinab, begleitet von einem jungen Hund, und kehrt in derselben, durch Überblendung verwandelten Einstellung als 15jährige zurück, begrüßt von einem mittlerweile ausgewachsenen Schäferhund.

Am Ende, als sich der Vater immer tiefer in seine Einsamkeit und Trauer vergraben hat und Estrella mittlerweile Distanz zu ihm gewonnen hat, sitzen die beiden ein letztes Mal im Speisesaal eines Hotels zusammen. Wieder hört man nur aus der Ferne das Gelächter und die Musik einer im Nebenraum stattfindenden Hochzeitsfeier. Doch ein Gespräch ist nicht mehr möglich, der Zauber ist verflogen. Und wenn die Kamera wieder die Silhouette der kalten Stadt des Nordens zeigt, schwenkt sie hinab ins Schilf, wo der Vater mit seinem Gewehr im eigenen Blut liegt. Das Kind Estrella muß erwachsen werden.

(In München im Theatiner.)

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