07. März 1994 | Focus Magazin | Filmkritiken, Rezension | Fräulein Smillas Gespür für Schnee

Kein Wintermärchen in Kopenhagen

zu Peter Høegs FRÄULEIN SMILLAS GESPÜR FÜR DEN SCHNEE

Ein kleiner dunkler Schatten zeichnet sich auf der großen weißen Fläche ab. Im Schnee liegt der Körper eines kleinen Jungen, der vom Dach des nahen Hauses zu Tode gestürzt ist. Ein bedauerlicher Unfall, sagt die Polizei und legt den Fall zu den Akten. Warum, fragt sich hingegen Smilla, die seine Spuren auf dem verschneiten Dach gesehen hat, warum hat der Junge Anlauf genommen? Und vor allem: Was bringt jemanden, der vor lauter Höhenangst kaum Treppenhäuser betreten wollte, zum Spielen auf ein Dach, das 20 Meter über der Erde liegt?

Smilla Qaavigaaq Jaspersen, Tochter einer grön-ländischen Robbenfängerin und eines dänischen Arztes, hat noch einen anderen guten Grund, den Fall des kleinen Jesaja nicht auf sich beruhen zu lassen. Der Tote war der einzige Mensch, für den sie so etwas wie Freundschaft empfunden hatte.

In dem einsamen Sohn einer Alkoholikerin sah sie eine Art kleinen Bruder. Um so mehr, als auch er von den Eskimos abstammte. Aber je entschiedener Smilla ihre Zweifel an der offiziellen Version äußert, desto hart- näckiger wird sie von den Bürokraten ignoriert. Kopenhagen kann sehr kalt sein – selbst für Grönländer.

Peter Høegs „Froken Smillas fornemmelse for sne“ ist ein Kriminalroman, so wie Umberto Ecos „Name der Rose“ einer war. Høeg schöpft aus einem Reichtum an Bildern und Beobachtungen, Geschichten und Gefühlen, der einem bis zur letzten Seite den Atem raubt. Kein Wunder also, daß gerade Bille August für Bernd Eichinger die Verfilmung des Buches vorbereitet.

Smilla, die nach dem Tod der Mutter mit drei Jahren zum Vater nach Kopenhagen kam, hat mit dem Herzen Grönland nie verlassen. Der Schnee und das Eis sind ihre Welt: Sie sind ihr „lieber als die Liebe“. Was die zartbittere Eskimofrau mit dem Gespür für Schnee und dem Sinn für Mode jedoch nicht daran hindert, mit einer Leidenschaft für die Wahrheit zu kämpfen, die selbst ihre Widersacher besticht.

Dabei begegnet sie unter anderem einem Leichenbeschauer mit einer Vorliebe für Kakteen und Zigarren, einem blinden Museumskurator mit einem absoluten Gehör, einer frommen Buchhalterin mit einem perfekten Zahlengedächtnis oder einem Schweizer Schiffskoch mit einer dunklen Vergangenheit. Sie alle legen eine Spur in die tiefer liegenden Eisschichten der Vergangenheit, bis hinab zu einer Nordland-Expedition im Jahr 1966, über deren fatalen Ausgang bemerkenswert wenig Unterlagen existieren. Um herauszufinden, was der Tod ihres kleinen Freundes mit den Ereignissen damals zu tun hat, muß sie selbst in die unendlichen Weiten des Packeises, wo einst schon ihre Mutter mit dem Kajak spurlos verschwunden ist.

Mit einer ungewöhnlichen Landschaft und einer noch ungewöhnli-cheren Heldin führt Høeg den Leser aufs Glatteis seines Kriminalfalls, der um so geheimnisvoller wird, je näher man dem Ende kommt. Und dabei entwickelt man nicht nur ein Gespür für Schnee, sondern auch einen Sinn für die kristalline Schönheit Grönlands.

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