26. August 1988 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Frantic

FRANTIC von Roman Polanski

Über den Dächern von Paris

Seine PIRATEN hatten Schiffbruch erlitten, da fragte Warner bei Polanski an, ob er schon ein neues Projekt habe: sie würden gerne einen Film mit ihm produzieren. Polanski bejahte, und Warner war sofort interessiert. Ob er schön eine präzise Idee habe? Ja: „Ein Amerikaner kommt nach Paris, begleitet von seiner Frau. Sie verschwindet.“ Der Rest ist Geschichte. Ein Mann sucht seine Frau. Er heißt Richard Walker.

„In mir erwachte beim Zuschauen eine unmäßige Neugier. Ich war etwas auf der Spur. Ich gelobte: käme ich je aus dieser Lage heraus, würde ich die Suche ständig betreiben… Die Suche ist etwas, was jeder unternähme, wäre er nicht in die Alltäglichkeit seines Lebens versunken… Sich der Möglichkeit der Suche bewußt werden, heißt: Verzweiflung. Die Filme handeln von der Suche, fälschen sie aber ab. Die Suche endet da immer in Verzweiflung.“

Der Text stammt aus dem Roman „Der Kinogeher“ von Walker Percy, der von dem Traum erzählt, das ausufernde Leben zum Bild gerinnen zu lassen, zum Kinobild. Seine Sprache schweift durch die Welt, wie der Sucher einer Kamera. Wenn er ruht, sieht man trügerisches Glück: Verzweiflung.

Eine Fahrt über die Stadtautobahn, vom Flughafen zum Hotel. Die Frau schläft, Walker wacht. Der Taxifahrer kommt aus Jamaica, aus dem Radio schallt Reggae-Musik, und vor den Fenstern versandet die Metropole in endlosen Stadtwüsten. Alles ist fremd. Eine Reifenpanne, Umsteigen, Stau. Eine Müllabfuhr schiebt sich durch den anonymen grauen Morgen von Paris, bis endlich eine Seitenstraße den Blick freigibt auf den Eiffelturm. Voilà, here we are. Vor zwanzig Jahren, in den Flitterwochen, waren die Walkers schon einmal hier. Von der Suche nach den Erinnerungen erzählt der Film auch. Und von ihrer Unmöglichkeit.

Er habe eine Szene mit Clochards in dem Film gehabt, erzählte Polanski, die sei schön mysteriös, aber letztlich zu pittoresk gewesen. Denn die „Montmartre“-Seite von Paris habe er bewußt aussparen wollen. Also kein AMERIKANER IN PARIS.

Zwei Amerikaner in Paris. Das Grand Hotel gegenüber der Oper ist komfortabel, die Angestellten sprechen überwiegend Englisch. Daß es hier im Grunde nicht anders aussieht als in San Francisco, macht den jet lag nur noch verstörender. Und daß sich die Samsonites auf aller Welt gleichen, macht aus Kinoerfindungen von gestern Alltagsgeschichten von heute. Die Frau hat den falschen Koffer, so fängt die Geschichte an. TWA wird sich darum kümmern. Kinogeschichten heute, das sind in der Regel Trans World Plotlines.

Es gibt Croissants, immerhin, und Frühstück im Bett. „I love Paris“ singt Walker unter der Dusche und freut sich auf faire l’amour. Doch die Kamera, der unsichtbare Dritte, fährt langsam auf die Duschtür zu, sieht die Frau aus dem Bild verschwinden, und läßt sich den Blick vom Dampf verschleiern. Die Wassertropfen rinnen wie Tränen durchs Bild: Cherchez la femme.

Der Tag kommt, Richard Walker geht auf die Suche. Die Frau ist weg. Und sie bleibt auch verschwunden. Der Hoteldetektiv vermutet sie in den Armen eines anderen, der Direktor reagiert verständnislos hilfsbereit, die amerikanische Botschaft beschränkt sich auf Routine, nur der Nachtportier zeigt Verständnis. Walker spricht kein Französisch und ist allein in der weißen Stadt, in der die Farben der Erinnerung längst verblaßt sind. Seine einzigen Anhaltspunkte sind das Armband seiner Frau und ein, Streichholzheftchen mit einer Telephonnummer. Als er den Besitzer des Anschlusses ausfindig gemacht hat, liegt der tot in der Küche. Aber dafür läuft ihm die Besitzerin des anderen Koffers, die junge hübsche Michelle (Emmanuelle Seigner) über den Weg. Durch sie willer an die Entführer seiner Frau (Betty Buckley) kommen, mehr interessiert ihn an ihr eigentlich nicht. Frantic heißt „wütend“ oder „wahnsinnig“, aber auch „krampfhaft“.

Michel Leiris schrieb in „Mannesalter“ über die Helden des amerikanischen Kinos, der Komödien wie der Krimis: „Helden des Zufalls, für die Verkommen und Erlösung eins sind, da es im einen wie im anderen Fall um denselben elementaren Sprung geht, der einen dazu treibt, aus sich herauszugehen.“ Frantic heißt auch: außer sich sein.

Die Bewegung des Films ist klar: wieder zu sich selbst kommen. Diese Motorik ist so dominant, daß Walker nicht nur keinen Blick für seine hübsche Begleiterin oder die Gefahren des Abenteuers hat, sondern der Film sich auch mit seinem Happy End erschöpft. Michelle, ganz in Rot, stirbt, Walker deckt sie zu und schließt seine Frau, ebenfalls im roten Kleid, wieder in die Arme. Cherchez la Möglichkeit für Walker. Zum Beispiel das hübsche Mädchen in seiner Frau zu entdecken. Aber dazu fehlt ihm die Neugier. Was die Amerikaner angeht, hat Polanski seit seinem erzwungenen Exil wirklich keine Illusionen mehr. Sein Amerikaner ist auf der Suche, aber er ist auf keiner Spur: Verzweiflung.

Nachdem Harrison Ford bei George Lucas und Steven Spielberg sein Gesicht hingehalten hatte, bescheinigten ihm Kritiker weltweit Gesichtslosigkeit. Mit DER EINZIGE ZEUGE, MOSQUITO COAST und jetzt FRANTIC hat Ford sie widerlegt. Was einst All American war, ist jetzt Trans World American, der Amerikaner in uns allen Über den Dächern von Paris trennt ihn von Cary Grant genausoviel wie die im Film wichtige Souvenirstatuette von ihrem New Yorker Original.
Wo bei Hitchcock noch das Finale von „Saboteure“ auf der Freiheitsstatue stattfand, sieht Walker die kleinere Pariser Schwester an der Pont de Grenelle lediglich auf dem Kopf stehend, als er aus einer Bewußtlosigkeit auf einem SeineHausboot aufwacht. Polanski hat Hitchcock von den Beinen auf den Kopf gestellt. Bis ins letzte Detail hinein finden sich Referenzen an den Meister des Suspense. Aber die Selbstverständlich- und Offensichtlichkeit, mit der Polanski seinen Hitchcocktail zusammenmixt, lassen das Verfahren nicht als Zitat, sondern eher als Dekor erscheinen. Polanski inszeniert selbst so meisterlich, daß nicht einmal die Cinephilen über diesen Dauer Kotau schmunzeln müssen. In dem Gebäude von Hitchcocks Werk ist für viele Platz.

Polanski hat mit FRANTIC einen Musterthriller geschaffen. So wie Baufirmen Musterhäuser bereitstellen. Man kann sie jederzeit besuchen und durch die Zimmer streifen, in denen sich die neuen Bewohner bereits eingerichtet haben. Es sind Museen des Normalen, in denen verwirklichte Phantasien zu besichtigen sind, denen aber das Wichtigste fehlt: vor weißen Wänden und leeren Räumen träumen zu können. Es gibt dort keine Möglichkeiten mehr.
Polanski ist in FRANTIC als Hitchcocks Musterschüler ganz außer sich. Mehr kann er in diesem Genre nicht mehr erreichen — nur noch weniger. Aber dann könnte man von seinem Film vielleicht träumen.

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