06. Juli 1990 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Eine Welt ohne Mitleid

EINE WELT OHNE MITLEID von Eric Rochant

Liebe auf der Flucht

Boy meets girl, eine einfache Geschichte. Mehr passiert nicht in diesem Film. Man muß das als Chance begreifen, sich dem Würgegriff der Themen und Genres zu entwinden. Es geht vor allem darum, den Menschen einen Spielraum jenseits ihrer Geschichte zu lassen. Zwei verlieben sich ineinander. Sie meinen es ernst, der Film auch. Aber es wird kein Drama daraus gemacht. Der Titel deutet schon an, daß der Ausgang dieser Geschichte keine Rolle spielt. Die Welt bleibt davon so oder so unberührt.

Der Film spielt jenseits der Schwelle des Erwachsenwerdens, in der Zeit, wo die Entscheidungen, die man für die Zukunft getroffen hat, zum ersten Mal auf die Probe gestellt werden. Der Weg ist schon vorgezeichnet, aber die letzte Gabelung noch nicht erreicht. Die Liebe von Hippo und Nathalie ist der vergebliche Versuch, ein letztes Mal so zu tun, als gebe es für sie noch die Unschuld der Jugend. Aber der Grat zwischen Glück und Scheitern ist schmal genug, um jeder Illusion Raum zu lassen.

Hippolyte Girardot spielt einen sympathischen Helden, wie man ihn sonst nur aus den Filmen der Nouvelle Vague kennt. Das Nichtstun hat er zur Lebensart erhoben, und das Leben genügt ihm als Beruf. Er ist keineswegs faul, aber auf die Zukunft pfeift er. Die Gegenwart ist ihm genug. Nathalie erwartet mehr vom Leben. Von ihrer Karriere als Simultandolmetscherin will sie sich nicht abbringen lassen, schon gar nicht durch eine Affäre. Mireille Perrier läßt Nathalie älter erscheinen, als sie ist. Aber ihr Lächeln, wenn sie einen Raum betritt, erzählt auch, daß sie offener ist, als sie tut. Die beiden versuchen, ihren Unterschieden Konturen zu geben. Als könnten sie erst durch die Differenz feststellen, woran sie miteinander eigentlich sind. Sie verstecken sich voreinander, sie öffnen sich; dieser Wechsel von Rückzug und Annäherung, von Warten und Genießen bestimmt den Rhythmus des Films.
„Un monde sans pitié“ ist Eric Rochants erster Spielfilm. Rochant erzählt aus einer Welt, die er kennt. Aber er nimmt sie nicht wichtiger, als sie ist. In seiner Liebesgeschichte sucht er nicht Originalität um jeden Preis, sondern reduziert sie auf ein paar Gesten. Das genügt, um den Blick auf die Welt zu verwandeln und den Gefühlen eine Gestalt zu geben. Der Film ist in Blau gehalten, aber Eric Rochant spielt nicht den Blues.

Das Paris dieses Films ist keine Stadt der Cafés und Debatten. Der Müßiggang geht dort andere Wege. Eric Rochant schaut lieber zu, wie die Menschen in der Frühe aufwachen, wie sie verschlafen am Frühstückstisch sitzen oder sehnsüchtig vor dem Telephon warten. Das Leben im Quartier muß nicht beschworen werden, es bildet sich in der Selbstverständlichkeit ab, mit der sich Hippo und seine Freunde dort bewegen. Für die Haltung des Films der Welt gegenüber gibt es ein schönes Bild, in dem Hippo auf einem schmalen Sims an der Hausfassade steht und sich vor einer verflossenen Geliebten versteckt. An den Abgrund, über dem er steht, verschwendet er keinen Gedanken. Es gibt genügend andere Dinge, die ihn gefangennehmen. Die Welt mag ohne Mitleid sein. Aber das ist nur ein Problem für den, der Zeit hat, sich darüber Sorgen zu machen.

Alles ist eine Frage der Perspektive bei Rochant. Wenn die Lichter des Eiffelturms über der nächtlichen Stadt verlöschen, dann muß man nur kurz mit den Fingern schnippen, um zu glauben, daß einem die Welt zu Füßen liegt. Nachdem Hippo für Nathalie die Lichter gelöscht hat, küssen sie sich zum ersten Mal. Später werden sie noch einmal auf dem Balkon stehen, jeder für sich diesmal, scheinbar für immer entzweit. Dann schauen sie beide auf den Eiffelturm, und Hippo schnippt, und weit von ihm entfernt sieht Nathalie die Lichter ausgehen und beschließt, vor ihrer Abreise doch noch einmal bei Hippo anzurufen. Im Kino gehört Paris immer noch den Liebenden.

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