02. Mai 1985 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Brazil

Tote Fliege im Getriebe

Noch einmal 1984: Terry Gilliams bildgewaltiger Film BRAZIL

BRAZIL, so will uns der Vorspann weismachen, spielt irgendwo im zwanzigsten Jahrhundert – der Ort des Films ist also zeitlich definiert. Es läßt sich aber auch genauer sagen: BRAZIL spielt 1984, nicht in der Realität, sondern in der Fiktion. Die Welt des Films ist die des Orwell-Buches, folglich eine düstere Welt. Kaum einmal fällt Tageslicht in die Straßenschluchten und dämmrigen Räume, der Alltag ist allenfalls von grellem Neonlicht oder dem Flimmern der Bildschirme erhellt. Kein Wunder, daß Sam Lowry (Jonathan Pryce) davon träumt, als Vogelmensch einmal über den Wolken zu schweben.

Die Gesellschaft ist streng vertikal organisiert. Doch längst schon haben sich die einzelnen Ebenen voneinander gelöst und sind nur noch durch einen unübersehbaren Wust von Röhren miteinander verbunden. Terrorakte sind dort am wirkungsvollsten, wo sie diese Versorgungs- und Informationsrohre kurzschließen. Die Regierenden und ihre Verwaltung sorgen sich jedoch kaum um die Subversion, sondern betrachten sie als Gegner in einem Spiel, das es zu gewinnen gilt. Ihre Regeln zu mißachten, bezeichnen sie als Unsportlichkeit. So geht es ihnen nicht mehr darum, den Bürger zu verwalten, sondern durch möglichst viele Informationen seine Handlungen zu kontrollieren und vorauszuwissen. Minister Helpman sagt: „In einer freien Gesellschaft ist Information unabdingbar für das Spiel.“ Solange der Bürger nicht auffällt, hat er seine Ruhe.

Er lebt in gigantischen Wohntürmen, in denen das Leben vollautomatisiert stattfindet. Für alles ist gesorgt, Wecken, Baden und Frühstücken, selbst der Toast liegt fertig geröstet bereit. Doch schon bald merkt man, wie es um die Funktionstüchtigkeit des Systems bestellt ist. Unmerklich schleichen sich immer wieder Fehler ein, die so lange ohne Folgen bleiben, wie es sich dabei lediglich darum handelt, daß eine Servicedüse den Tee nicht in die Tasse, sondern über den Toast gießt.

Kleine Fehler – fatale Folgen

Wo Abläufe durch einen so riesigen und starren bürokratischen Apparat geregelt werden, kann ein kleiner Fehler fatale Folgen nach sich ziehen. Wo ein Amt nicht weiß, was ein anderes tut, wo keine Bewegung mehr ohne Formular stattfinden kann, da herrscht auch nicht mehr die nötige Flexibilität, um Fehler auszugleichen. In der Hierarchie kümmert sich keiner mehr um die Fehler unterer Ebenen, oder wie es Jack (Michael Palin) ausdrückt: „Ich habe den falschen Mann als richtigen geliefert bekommen und habe ihn auch als richtigen behandelt.“ Daß er dabei starb, ist nicht seine Schuld.

Angefangen hatte alles mit einer Fliege, die einen Beamten belästigt. Als er sie totschlägt, fällt sie direkt in eine automatische Schreibmaschine und aus dem Namen Tuttle wird Buttle. Der falsche Buttle wird abgeholt, die hübsche Nachbarin Jill (Kim Greist) kümmert sich um den Irrtum; Sam, der Held des Films, sieht sie, verliebt sich und versucht sie ausfindig zu machen. Inzwischen ist Buttle an der „richtigen“ Behandlung längst gestorben; die Ministerien versuchen, den Fehler zu vertuschen, Jill bekommt Schwierigkeiten, und also auch Sam, er wird verhaftet, flieht wieder und ist, ehe er sich versieht, zum Staatsfeind geworden. Er wird gesucht und ist ständig auf der Flucht.

Sams Freund Jack, der im Ministerium für Informationswiederbeschaffung arbeitet, sagt einmal: „Alles ist mit allem verbunden – Ursache und Wirkung. Unsere Sache ist es, diese Verbindungen aufzudecken.“ Was er nicht weiß und auch gar nicht wissen will, daß er damit nur Erfolg hat, solange das System reibungslos funktioniert. Doch wenn Fehler auf einer höheren Ebene nur noch Teil einer Information sind, die als richtig behandelt wird, dann potenziert sich der Irrtum. Aus kleiner Ursache wird große Wirkung, aus einer kleinen toten Fliege eine ganze Katastrophe.

Orwell und Kafka

Man sieht, Regisseur Terry Gilliam (von der Komikertruppe Monty Python) hat nicht nur Orwell, sondern auch Kafka gelesen, hat Filme wie METROPOLIS und BLADERUNNER angesehen. Er hat sich für BRAZIL nichts Neues ausgedacht, sondern auf Bekanntes zurückgegriffen. Die Strukturen sind gleich geblieben, nur die Dimensionen haben sich geändert; dafür stehen heutzutage die Spezialeffekte zur Verfügung. Sehenswert ist, wie er daraus eine hermetische Bildwelt schafft: Monumentale Architektur, die den Mensch verschwinden läßt, Autobahnen, die schnurgerade ins Unendliche führen und die vor lauter Reklametafeln keinen Blick mehr auf die Umgebung freigeben. Gilliam verleiht seinem Film Tempo mit irrwitzig schnellen Kamerafahrten und dem ausgiebigen Gebrauch von Weitwinkelobjektiven, deren kurze Brennweite die Bewegungen der Personen beschleunigt, indem sie die räumliche Tiefe der Bilder verzerrt und übertreibt. Dadurch kommt zwar Bewegung in die Bilder, verursacht aber auch eine gewisse Einförmigkeit der Räume und des Rhythmus. So wird diese effektvolle Einstellung oft zum Selbstzweck. Doch der Reichtum an Bildideen, der bösartig-makabre britische Humor und vor allem das großartige Spiel von Jonathan Pryce, der an den jungen James Stewart erinnert, lassen solche Mängel der Inszenierung leicht vergessen.

Am Ende treibt Gilliam noch einmal sein Spiel mit uns. Er schließt die Ursache-Wirkung-Kette kurz, läßt die Handlung wieder in die Vergangenheit münden und kommt so zu einem Happy-End; Sam und Jill leben in einer Talsenke, einer Idylle in der Natur. Aber dann ist auch dies wieder nur ein Traum, in den sich Sam während der Folter geflüchtet hat. Doch dort muß er jetzt endlich kein Vogel-Übermensch mehr sein, sondern er ist selbst der Held. Und über der Szene liegt wieder dies melancholische Lied, das uns den ganzen Film hindurch begleitet hat: Brazil…

(In München im Mathäser, Karlstor, Royal und Marmorhaus)

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