11. September 1992 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Boy meets Girl

BOY MEETS GIRL von Leos Carax

Alphabet der Liebe

Hitchcock erzählte Truffaut 1966 eine kleine Geschichte zum Thema Träume: Es gab mal einen Drehbuchautor, der hatte seine besten Einfalle immer mitten in der Nacht. Wenn er jedoch am anderen Morgen aufwachte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Also beschloß er irgendwann, Papier und Bleistift neben das Bett zu legen. Als er wieder einmal eine tolle Idee hatte, schrieb er sie schnell auf und schlief zufrieden wieder ein. Am nächsten Morgen hatte er natürlich wieder alles vergessen. Aber er hatte ja den Zettel. Darauf stand: BOY MEETS GIRL – Junge trifft Mädchen.

Leos Carax erzählte einem Reporter 1983 seine Geschichte: Er trage immer sein kleines Tonband bei sich, nehme auf, was er höre und sehe, und lasse dann einen Freund die Bänder abschreiben. Abends lege er dann sein Gerät unter das Kopfkissen. Das sei praktisch, weil man kein Licht machen müsse, wenn man zufällig drei Worte festhalten wolle. Am anderen Morgen verstehe er das Gesagte zwar nicht mehr, aber man müsse immer versuchen, nichts zu verlieren.

Als letztes Jahr LES AMANTS DU PONT-NEUF in die Kinos kam, erschien ein Sonderheft der Cahiers du Cinéma, das Leos Carax selbst gestaltet hatte. Es erzählt, wie dieser Film wurde, was er ist, wie sich die Vorbilder zu Bildern entfalteten – und der Film sich in ein Stück Leben verwandelte. Es ist ein Photoalbum, das sich in den Spuren, die dieses Werk hinterlassen hat, zurücktastet, um ein Terrain abzustecken, in dem diese Welt Platz hat. Alles findet sich da: Zeichnungen und Dokumente, Photos und Gemälde. Dialoge und Zitate, Gefundenes und Erfundenes.

Leos Carax ist ein Jäger und Sammler: Alles hebt er auf, nichts will er verlieren. So wird alles zur Fundsache, die Fakten wie die Fiktionen, und das Erlebte findet in seiner Trophäensammlung genauso Platz wie das Erträumte. Gerade in BOY MEETS GIRL kann man sehen, wie sein Erzählen funktioniert. Der Film ist ein Sammelsurium von Szenen und Situationen, die mal wie aufgeschnappt, mal wie ausgedacht wirken: ein quasselnder Araberjunge in der Metro; eine Gruppe Vietnamesen beim Flippern; ein Mann, der am Telephon immer wieder seinen Namen buchstabieren muß. So übertrieben zufällig kommen diese Beobachtungen daher, daß im Grunde ein System dahinterstehen muß. Und genau das bezeichnet der Titel: BOY MEETS GIRL, das ist der zum Schicksal geronnene Zufall.

Junge trifft Mädchen. Junge wird betrogen. Mädchen wird verlassen. BOY MEETS GIRL buchstabiert das Alphabet der Liebe, durchläuft die verschiedenen Stadien vom Entflammen bis zum Erlöschen. Aber der Zusammenhalt ist lose, und Leerlauf und Atempausen erzählen ihre mindestens genauso wahre Geschichte von Männern und Frauen. Denn die Liebe arbeitet die meiste Zeit unter Tag und wirkt gern im Verborgenen. Nichts anderes meint jener Mann, der sie mit Spionage und Sabotage vergleicht. Von der Liebe geheimem Wirken und verborgenem Tun erzählt Carax wie kaum ein anderer. In einer grandiosen Sequenz ist der Weg des Jungen Alex zur Wohnung seiner Freundin Florence, der er zur Versöhnung ein paar Schallplatten geklaut hat, überlagert vom Bettgeflüster, in dem detailliert zur Sprache kommt, was Florence gerade mit ihrem neuen Liebhaber angestellt hat.

Die Diskussion über sexuelle Praktiken unterwandert die Illusion über emotionale Taktiken, knüpft Erregung und Ernüchterung aufs grausamste zusammen. Im Moment, da Alex vor der Tür angekommen ist, verstummt der Dialog der Liebenden. Es bleibt die Frage, ob es nicht vielleicht nur Alex innere Stimme war, die sein hoffnungsvolles Tun in Frage stellte. Die Figuren erliegen bei Carax oft genug ihren Einbildungen.

Am Anfang kriecht eine greisenhafte Stimme über die nächtliche Seine – schwer und traurig warnt sie, daß bald alles beendet sei. Dann wirft eine Frau die Manuskripte und Leinwände des Mannes, den sie gerade verlassen hat, in den dunklen Fluß. Und so, wie die Blätter und Bilder im schwarzen Nichts dahinzusegeln scheinen, so treiben auch die Bilder des Films durch die Finsternis. Dinge tauchen auf und verschwinden wieder, wie von schwarzen Löchern verschluckt, deren Sog alles in ihren Bann schlägt. Die Liebenden bei Carax sind immer Todgeweihte. Sie wissen es nur noch nicht.

Alex wird gespielt von Carax’ Alter ego Denis Lavant. In seinem Zimmer hat er über dem Bett einen alten Stich hängen, hinter dem er einen Plan von Paris auf die Wand skizziert hat. Darauf notiert er die wichtigsten Stationen seines Lebens und seiner Liebe. Ort und Datum der Geburt sind dort genauso verzeichnet wie die des ersten Ladendiebstahls, die Jahre des Lesens im Luxembourg sind eingetragen und die Lage seiner Bank. Wo er Florence zum ersten Mal getroffen hat, kann man da genauso sehen wie das Datum ihres ersten Kusses. Ihre erste Lüge läßt sich lokalisieren und die erste Nacht in der rue Pascal. Eine private Geographie hat er da entworfen, in der die Biographie sein Paris durchzieht wie die Linien der Métro.

Als Alex diesmal den alten Stich abnimmt, trägt er ein, was der Film gerade gezeigt hat: seinen ersten Mordversuch an der Pont de Gros Caillou, wo er den Freund, der ihn mit Florence betrogen hat, zu erwürgen versuchte. Auf seinen Wanderungen durch Paris begegnet er einem Mann, der seiner Freundin durch die Türsprechanlage den Verlust seiner Liebe beklagt. Alex geht weiter, und kurze Zeit später wird in einer Parallelmontage sein Weg mit dem des Mädchens am anderen Ende der Sprechanlage verflochten. In einer wunderbar komponierten Szene sieht man ihn mit Kopfhörern über den Pont-Neuf laufen, überlagert von den Füßen des Mädchens Mireille (Mireille Perrier), das in der Wohnung einen Steptanz aufführt. Dann klingelt das Telephon und bringt den Gleichschritt des Geschicks fürs erste aus dem Takt.

Zufall und Notwendigkeit treiben die Geschichte voran. In einer Bar fällt Mireilles Freund eine Einladung aus der Tasche, die sein unsichtbarer Verfolger Alex aufhebt. Wenn er sich später dort einfindet, werden er und Mireille sich nicht gleich erkennen. Aber als sie gemeinsam am Büffet stehen, setzen sie beide zweimal zum Reden an und sagen beide genau dasselbe. Auf einleuchtendere Weise ist noch selten der Gleichklang der Herzen zum Ausdruck gekommen. Ehe die beiden jedoch ihre Bestimmung entdecken, zerstreut Carax erst einmal jeden Verdacht auf Liebe. Die Party ist ein Kuriositätenkabinett, auf der ein berühmter Künstler mit Kugel im Kopf mit dem Mann von der Zeitansage herumsteht und ein amerikanischer Astronaut mit einer ehemaligen Miss Universum. Und als sich Alex auf ein Sofa niederläßt, kommt er neben einem Taubstummen zu sitzen, der ihm über seine junge Begleiterin eine Geschichte aus den Tagen des Stummfilms erzählt, als sich in den Kinos die Taubstummen über die Lippenbewegungen der Schauspieler amüsieren konnten, weil die den Schutz des stummen Mediums manchmal ausgenutzt haben, um Schweinereien von sich zu geben. Was nur daran erinnert, daß sich im Tonfilm die wahren Geschichten oft genug hinter Gesten, Mienen und Blicken verbergen.

Auch in der Geschichte von Mireille und Alex ist die Liebe ein Flipperspiel. Es geht darum, die Kugel in Bewegung zu halten, aber zu gewinnen ist nichts. Einmal gibt es in diesem Film eine Einstellung, in der die Kamera von Jean-Yves Escoffier auf einen Flipperautomaten zufährt, der vom Wirt gerade geöffnet worden ist. Neugierig nähert sie sich den komplizierten Innereien, als könnte sie dadurch dahinterkommen, wie das bunte Lichterspiel funktioniert BOY MEETS GIRL, das ist ein neugieriger Blick auf die Innereien der Liebe.

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