11. Januar 1994 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Weitere Festivals | Havanna 1994

Kapitalismus oder Tod?

Beobachtungen beim Filmfestival in Havanna

Die streunenden Hunde sind nur noch Haut und Knochen. Wie Vorboten eines nahen Endes schleichen sie durch die Stadt, ohne Fell und ohne Kraft. Wenn ganz am Ende der Nahrungskette nichts mehr abfällt, dann könnte man leicht vermuten, daß ein Land nur noch mit dem Reservetank fährt. Andererseits wird man keinem Land gerecht, wenn man ausgerechnet mit den ärmsten Hunden anfängt. Aber das Bild dieser Gespenster aus dem Reich der Schatten bleibt haften, wenn man durch Havanna läuft.

Im Palacio de la Revolución, sozusagen am anderen Ende der Nahrungskette, gibt sich Fidel Castro Ruz, Presidente del Consejo de Estado y del Gobierno de la Republica de Cuba, zum Abschluß des XV. Festival del Nuevo Cine Latinoamericano die Ehre. Falls er je vorhatte, sich ans Buffet zu begeben, so wird an diesem Abend nichts daraus. Als er nach einer Stunde in einer Menschentraube die Tischkante erreicht hat, ist es Zeit umzukehren; für den Rückweg ins Separée braucht er noch einmal so lang. In seiner grünen Uniform ragt er aus dem Pulk, in dem er sich immer wieder neuen Gesprächspartnern mit stets der gleichen Aufmerksamkeit zuwendet. Dabei rechtfertigt jeder seiner Gesichtsausdrücke Großbuchstaben: Sorgenvoll. Herzlich. Erfreut. Väterlich. Milde. Die Leute drängen sich um ihn, schieben ihre halbwüchsigen Kinder vor, als wollten sie sie von ihm segnen lassen. Die Leibgarden stehen unauffällig in zweiter Reihe und halten Blickkontakt. Der Máximo Lider besitzt in der Tat eine Aura, wie sie Tolstoi gehabt haben mag. Ein Popstar, eine Ikone. Als Castro wieder hinter seinem hölzernen Vorhang verschwindet, haben sich davor all jene eingefunden, die in den letzten zwei Stunden schon einmal sein Gehör gefunden hatten. Gierig, die Bekanntschaft durch einen zweiten Blick bestätigt zu sehen. Wie Süchtige.

Ins Inner Sanctum hinter dem hölzernen Vorhang sind nur die großen Sieger des Festivals zugelassen. Die Filmemacher Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío und die Stars ihres Films Fresa y chocolate, der das Festival eröffnet und durch seinen Sieg bei der Preisverleihung im Tatro Carlos Marx sozusagen auch beendet hat. Der Preisregen für Erdbeer und Schokolade ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil es sich dabei um den einzigen kubanischen Spielfilm in diesem Jahr handelt, sondern vor allem weil bis vor kurzem ein Kinostart für einen Film wie diesen in Kuba undenkbar gewesen wäre. Nicht zu reden davon, daß seine Regisseure von Castro nicht nur nicht empfangen worden, sondern sehr wahrscheinlich in Ungnade gefallen wären. Wenn es in Kuba eine neue Freiheit gibt, dann hat sie in diesem Film ihren künstlerischen Ausdruck gefunden.

Symbolische Geste

Fresa y chocolate erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die eine Brücke quer durch die kubanische Gesellschaft schlägt. Auf der einen Seite steht der schwule Künstler Diego, der sich in seinem Außenseitertum einigermaßen komfortabel eingerichtet hat, auf der anderen der junge Soziologiestudent David, der im Geiste der Revolution und ihres Männerkultes erzogen worden ist. Zwar bemüht er sich immer wieder, sich auf sein starres Weltbild zurückzuziehen, aber je mehr ihn einer seiner Komilitonen darauf einzuschwören versucht, desto weniger kann der naive David die Faszination für Diegos Welt und den Esprit seines neuen Freundes leugnen. Am Ende ist er so weit, daß er seiner Vorliebe für Schokoladeneis zum Trotz, in einer symbolischen Geste auch das Erdbeereis seines Freundes probiert.

Es gehe nicht um Sexualität, sagt der Drehbuchautor Senel Paz, sondern um Toleranz: ‚Wer anders ist und anders denkt, darf nicht mehr ausgeschlossen werden. Er muß eine Möglichkeit haben, auch innerhalb der Revolution einen Raum zu finden. Es darf nicht sein, daß für Außenseiter automatisch der Zwang entsteht, das Land zu verlassen. In diesem Sinne wirbt der Film dafür, daß niemand mehr gehen muß.‘ Im Film ist es noch längst nicht so weit. Diego verabschiedet sich von David mit den Worten, er gehe nicht, sondern werde vertrieben. Weil er hier nicht das Recht habe, so zu sein, wie er ist.
Als das Festival mit Fresa y chocolate eröffnete, stürmten die Massen das Kino, weil der Ruf, der dem Film vorausging, befürchten ließ, daß dies unter Umständen die erste und einzige Aufführung des Films sein würde. Noch vor drei Jahren war ein anderer kritischer Film, Alícia en el pueblo de Maravillas, nach seiner Premiere verschwunden. Daß sich etwas geändert hat, konnte man zwar ahnen, nachdem der Regisseur von Alice im Dorf der Wunder, Daniel Díaz Torres, diesmal in der Jury saß – aber verlassen wollten sich die Habaneros darauf offenbar nicht.

Die Befürchtungen bestätigten sich nicht: Fresa y chocolate kam auch in die Kinos, wo die Schlangen an den ersten Tagen einen halben Kilometer weit die Straßen säumten. Wenn man sich den Film außerhalb des Festivals ansah, dann konnte man darüber staunen, wie wirklich jede Pointe und Anspielung aufmerksam bejubelt wurde. Man konnte aber auch erleben, wie das Publikum geschlossen laut aufseufzte, als in einer Szene ein großer, fetter Truthahn ins Bild kommt. Und vielleicht lag in dieser Reaktion der aufrichtigste Kommentar zur Lage des Landes nach drei Jahren período especial en tiempos de paz, dem Ausnahmezustand in Friedenszeiten.

Orden und Patronen

Er sei etwas eifersüchtig auf den Erfolg von Fresa y chocolate, gesteht Miguel Barnet, Vizepräsident des Schriftstellerverbandes UNEAC und selbst auch Drehbuchautor, als er seinen Lada durch die Nacht steuert. Er sei ein schlechter Fahrer mit schlechtem Orientierungssinn, gibt er zu, aber selbst bessere Fahrer hätten in Havanna Schwierigkeiten, weil die vielen Radfahrer, die es seit der Benzin-Knappheit gibt, ohne Licht die unbeleuchteten Straßen unsicher machen und ständig Unfälle verursachen.

Die Fahrt geht nach Miramar, ins ehemalige Viertel der Reichen, wo in einer der Villen ein neues Restaurant aufgemacht hat. Auf den Nebenverdienst der Hausbesitzer deutet nichts hin – außer dem Schwarzen vor der Tür, der darauf aufpaßt, daß die Autos der Gäste nicht gestohlen werden. Im Wohnzimmer steht ein Vitrinenschrank mit jeder Menge Orden und Patronen. Die Tochter, die die Gäste im Garten hinter dem Haus bedient, erklärt, daß ihr Vater mit Castro in der Sierra Maestra gekämpft habe. Auch daran kann man sehen, wie es um Kuba steht, wenn schon die Revolutionäre der ersten Stunde ihre Privathäuser zu Restaurants umfunktionieren müssen.

Barnet, mit Büchern bekannt geworden, in denen er jenen eine Stimme verleiht, denen sonst kein Gehör geschenkt wird, spricht leise, mit halb gelangweilter, halb sarkastischer Miene. Sie verfinstert sich allenfalls, wenn es um Jesus Díaz oder Guillermo Cabrera Infante geht, zwei Autoren, die dem Land und seinem Führer den Rücken gekehrt haben. ‚Es ist leicht, aus der Ferne zu kritisieren‘, sagt er, ‚aber wer fort ist, kann für das Volk nichts tun.‘ Wenn es so leicht wäre, würde er sich allerdings kaum so sehr für die beiden interessieren. ‚Ich bin weder Kommunist noch Sozialist‘, sagt er auch noch, ’sondern ein Petit Bourgeois. Aber ich bin für die Revolution. Ich war in meinem Leben in 30 Ländern und ich habe nirgends gesehen, daß es dort besser wäre.‘

In der Tat läßt das allseits beschworene Ende Castros auf sich warten. Es gibt Hunger und nächtliche Stromsperren, Schwarzmarkt und Prostitution, aber offenbar auch eine große Entschlossenheit, die Errungenschaften der Revolution auf dem medizinischen und erzieherischen Sektor nicht aufzugeben. ‚Vielleicht ist Castro schlecht‘, sagt Edgar, der Buchhändler: ‚Kann schon sein, aber mit Sicherheit ist er immer noch besser als das, was von den Amerikanern kommt. Mein Vater war Hafenarbeiter, meine Mutter Serviererin, glauben Sie wirklich, daß ich mit dieser Herkunft, irgendwo anders hätte studieren können?‘ Edgar sagt das, obwohl er ein Jahr im Gefängnis war, weil er seine Versetzung zum Armeedienst in die Provinz kritisiert hatte. Und obwohl er kaum genügend Geld verdient, um seine Familie zu ernähren.

Buchhändler, das heißt in Havanna, daß man privat Bücher gegen Dollars an den Mann bringt. Denn in den Buchhandlungen gibt es außer Lehrbüchern kaum Literatur, weil seit drei Jahren dafür kein Papier mehr da ist. So hofft Edgar, dem in der Buchhandlung La Moderna Poesia gerade beschieden wurde, daß man ihn nicht mehr benötige, irgendwie 700 Dollar zusammenzukriegen, um sich mit seinem Bruder eine der alten amerikanischen Limousinen zu kaufen, die überall in der Stadt die Revolution überdauert haben, und als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Für einen Lada oder einen Nissan wird es nicht reichen, denn die sind wesentlich teurer als die schönen alten Chevrolets, Packards oder Dodges. Bis dahin verkauft er Bücher an Touristen und regt sich furchtbar auf, wenn jemand bei fünf Dollar die Miene verzieht, aber keinen Moment zögert, wenn es darum geht, zwei Dollar für ein Cola auszugeben.

‚Erst waren wir von den Spaniern, dann von den Amis und schließlich von den Russen abhängig‘, sagt Edgar, ‚jetzt vom Tourismus‘. Im amerikanischen Radio Martí, das sich perfiderweise nach einem kubanischen Befreiungshelden genannt hat, wird laut Edgar dazu aufgefordert, die Touristen anzugreifen. Damit will man die letzte Geldquelle zum versiegen bringen und Castro den Todesstoß versetzen. ‚Wofür?‘, fragt Edgar, ‚Dann gibt es überhaupt keinen Strom mehr.‘ Man merkt, daß beide Seiten mit der Wahl ihrer Methoden nicht zimperlich sind.

Zweiklassengesellschaft

Als es darum ging, ob nach der deutschen Vereinigung die völkerrrechtlichen Verpflichtungen der DDR übernommen werden, hielt sich die Bundesrepublik an die seit 1960 bestehende Handelsblockade der USA und stoppte die Lieferung von jährlich 22.000 Tonnen Milchpulver gegen die gleiche Menge Futterhefe, die gewährleistet hatten, daß jedes kubanische Kind bis zum siebten Lebensjahr täglich einen halben Liter Milch bekommt.

Nach den schweren Einbußen im Außenhandel und der Energieversorgung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieb der Revolution nichts anderes übrig, als sich nach und nach mit dem Kapitalismus zu arrangieren. Es stellt sich allerdings die Frage, was auf Dauer von der Revolution übrig bleiben soll, wenn die Gesellschaft in zwei Klassen zerfällt: in die, die an Dollars gelangen können, weil sie im Tourismus arbeiten oder Verwandte in Amerika haben, und die, die es nicht können, wie zum Beispiel Lehrer und Ärzte. Die Vorzeichen haben sich verkehrt: Statt ‚Socialismo o muerte‘ wird es bald heißen ‚Kapitalismus oder Tod‘.

Senel Paz, nach dem Erfolg von Fresa y chocolate, der Verfilmung seiner Erzählungen, im Aufwind, kommt zum Gespräch ins Hotel Nacional, das seit seinem Bau 1930 vor allem Mafia-Größen beherbergte und nun das Schmuckstück des neuen kubanischen Tourismus ist. Er hat gerade eine neue Wohnung bekommen und ein Telefon und ist deshalb naturgemäß etwas zuversichtlicher, was die Zukunft seines Landes angeht. Das Volk, meint er, habe in drei Jahren Spezialperiode gelernt, mit den neuen Umständen zu leben: ‚Die Gesellschaft hat sich assimiliert und die Fähigkeit entwickelt, neue Antworten zu finden. Es wurde viel umsonst gelitten unter dem Dogmatismus und der Prinzipienstrenge. Diese Strenge hat die Revolution viel mehr beschädigt als die jetzige Großzügigkeit. Jetzt geht es vor allem darum, daß der neue Freiraum in die Revolution integriert wird. Natürlich ist die neue Freiheit voller Spannungen. Sie ist ja auch erst im Begriff, konstruiert zu werden. Man muß diese Freiheit als work in progress sehen.‘

Momentan sieht es vor allem so aus, als gleiche das Rezept für die Zukunft vor allem dem Nationalgetränk Cuba libre: Etwas kubanischer Rum, aufgefüllt mit viel amerikanischem Coca-Cola.
MICHAEL ALTHEN

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