12. Mai 2001 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 2001 (1)

54. Festival du Film Cannes

Der unsichtbare Gast

Pulp Fiction an der Croisette: Was in Cannes in den Kinos läuft, ist nur ein Bruchteil dessen, was wirklich geschieht

Wenn man am Flughafen von Nizza ankommt, starrt den Passagieren ein Spalier von Damen entgegen, deren Lächeln genauso sorgfältig frisiert ist wie ihre Haare, und die Schilder hochhalten, auf denen die Namen von Leuten stehen, die prominent, wichtig oder reich genug sind, um eigens abgeholt zu werden. Da liest man dann Namen wie Quentin Tarantino oder Liv Tyler, und weil die Gesichter der Schilderdamen nicht den Eindruck machen, sie wüssten, auf wen sie da warten, spielt man einen Moment lang mit dem Gedanken, sich an sie zu wenden und zu sagen: „Quentin Tarantino? That’s me.”

„Oh, Willkommen, wie war Ihr Flug, bitte folgen Sie mir.” Man sagt einfach: „Long flight. Veeery tired!” Und dann muss man nichts mehr sagen, sondern wird zu einer großen Limousine geführt, wo man in weichen Sesseln versinkt, eine Minibar zur Verfügung hat und das Fenster zum Fahrer hochfahren kann. Vor den getönten Scheiben rauscht die Riviera vorbei, und wenn man im Carlton ankommt, kümmert sich jemand um die Formalitäten, während man in Tarantinos Suite verschwindet. Dort liegen schon sieben Urgent Messages von Miramax, und dann weiß man, dass es langsam Zeit ist, sich noch ein bisschen Obst aus dem Früchtekorb zu schnappen und sich aus dem Staub zu machen.

Quentin Tarantino ist also auch in Cannes, obwohl gar kein Film von ihm läuft. Man wird ihn sicher nie zu Gesicht kriegen, allenfalls mal in einem Branchenblatt auf der Gästeliste irgendeiner Party finden, von der man nichts gewusst hat. Was man in Cannes in den Kinos sieht, ist also nur ein Bruchteil dessen, was hier wirklich passiert.In den teuren Hotels hinter schweren Türen auf leisen Teppichen spielen sich die wahren Geschichten ab, und selbst wenn sich 90 Prozent davon doch als Lügen entpuppen, reichen die restlichen zehn, um damit auch im nächsten Jahr das Festival zu bestreiten. Und dann wird quer über die Fassade eines des großen Hotels an der Croisette ein Transparent gespannt, damit jeder weiß, dass die Produktion weder Kosten noch Mühen gescheut hat. 400000 Francs kostet so eine Werbeaktion, und da kann man sich ausrechnen, dass alleine mit der Plakatierung an der Croisette eine mittlere europäische Produktion bestritten werden könnte. Aber dann wüssten wir nicht, dass „Jurassic Park III”, „Planet of the Apes” und „Tomb Raider” demnächst die Welt verschlingen werden. Wäre ja auch schade.

Wesentlich kostengünstiger ist wahrscheinlich die Aktion eines Internet-Suchdienstes, der eine Handvoll junger Leute mit je vier schwarzen Labradorhunden an der Leine die Strandpromenade entlangschickt. Die Tiere sind zweifellos entzückend, aber ob es dem Image hilft, wenn man mit ihnen im Festivaltrubel Gassi geht, ist doch fraglich. Ähnlich dürfte es sich mit dem Starlet verhalten, das am ersten Abend nur mit einem Minibikini bekleidet die Treppen zum Festivalpalais hochstakste. Die beiden Bekleidungsteile wogen – wie die Presse stolz vermeldet – 4,7 Kilo und kosten 7,5 Millionen Francs. Fabelhaft. Auch damit ließe sich wenigstens ein deutscher Film produzieren. Aber der wird es im Unterschied zum Schmuckbikini niemals auf die roten Stufen des Festivals schaffen.

Zu diesem Thema gab es eine hübsche Szene in dem iranischen Wettbewerbsbeitrag „Kandahar” von Mohsen Makhmalbaf. Da sitzt ein Junge in einer Koranschule und wird vom Mullah aufgefordert, laut aus der heiligen Schrift vorzulesen – heraus kommt aber nur ein Singsang, aus dem sich keine Worte heraushören lassen. Der Lehrer lässt den Jungen wiederholen und wird immer ärgerlicher, weil es derselbe Singsang bleibt. Der Junge hat einfach nichts gelernt und versucht, die anderen nachzuäffen. Ist es mit dem Weltkino nicht genauso? Der Singsang erinnert an irgendwelche Vorbilder, aber im Grunde hat man nichts gelernt. Womöglich liegt aber der Witz sowieso darin, auf die Regeln der Lehrer zu pfeifen, und seinen eigenen Weg zu gehen – wie der Junge im Film.

Ein eigener Weg zu den Sternen könnte so aussehen: Wenn Sie einen Star mal ganz für sich haben wollen, stellen Sie sich einfach am Flughafen von Nizza mit einem Schild auf, warten bis einer anbeißt, zerren ihn zu Ihrem Leihwagen und fahren ein bisschen ins Hinterland, vielleicht nach Grasse oder St.Paul-de-Vence, trinken ein Gläschen oder zwei und liefern ihn dann wohlbehalten im Carlton ab oder lassen ihn einfach sitzen. Das wäre womöglich noch besser als Kino.

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