54. Festival du Film Cannes
Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein
Der König geht nach Haus: Filme von Oliveira, Solondz und Corsini in Cannes
Fünfzig Meter sind es vom Pressezelt des Noga Hilton quer über die Croisette zum nächstbesten Strandrestaurant, aber was für Normalsterbliche nur fünfzig Meter sind, kann für andere zu einer halben Ewigkeit werden. Als die Schauspielerin Uma Thurman und ihr Gatte Ethan Hawke nach der Pressekonferenz zu seinem Regiedebüt „Chelsea Walls” zum Strand wollen, werden sie von zehn Bodyguards umringt, die wiederum von gut fünfzig Fotografen eingekesselt sind. So bewegt sich diese hysterisch kreischende Menschentraube im Schneckentempo durch den ganz normalen Promenadentrubel und erinnert irgendwie an die Kampfformation einer römischen Legion. Und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, kann man für Momente einen Blick auf die beiden Stars erhaschen, deren Gesichter angespannt, starr und enorm freudlos wirken.
Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein – auch nicht, wenn die Sonne scheint und die Welt einem zu Füßen liegt. Vielleicht ist es da nicht unpassend, dass sich in den ersten Tagen Filme häuften, die das eigene Metier zum Gegenstand hatten: das Filmemachen, die Schauspielerei oder das Erzählhandwerk als solches. In Roman Coppolas „CQ” geht es um den Kampf zwischen Kommerz- und Autorenkino im Paris der späten Sechziger; in Catherine Corsinis „La répétition” um eine Theaterschauspielerin, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird; in Manoel de Oliveiras „Vou para casa” um einen Theaterschauspieler, der dem Tod ins Auge blickt und beim Kino landet; in Todd Solondz’ „Storytelling” um einen glücklosen Amateurfilmer, der auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit einer Katastrophe begegnet. Das nennt man dann wohl selbstreflexiv.
Man könnte auch sagen: Wenn dem Kino nichts mehr einfällt, dann fängt es an, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Aber in den Spiegeln, heißt die alte Regel, kann man nur dem Tod bei der Arbeit zusehen. Letzteres wiederum kann man dem mittlerweile 93-jährigen Oliveira kaum verdenken. Der nimmermüde Portugiese dreht munter einen Film nach dem anderen, hat längst sämtliche Weltrekorde gebrochen, und schafft es nach einigen eher akademischen (von Kennern aber dennoch kultisch verehrten) Werken mit „Vou para casa”, um Michel Piccoli als alterndem Theaterstar einen bewegenden, intimen Film zu inszenieren. Piccoli erfährt, als er Ionescos sterbenden König gibt, hinter der Bühne, dass Frau, Tochter und Schwiegersohn bei einem Unfall ums Leben gekommen sind – zurück bleibt nur sein Enkel. Als er nach der Tragödie langsam ins Leben zurückkehrt, kauft er sich erst einmal neue Schuhe – das ist eine vielsagende, aber doch so kleine, alltägliche Geste, dass man fortan selbst auf neuen Schuhen durch den Film zu wandeln glaubt. Wie Oliveira durch die Schaufenster das stumme Spiel beobachtet, hat etwas Rührendes; man nimmt gerne in Kauf, dass der Film um Piccoli herum in Zeitlupe zu verfallen scheint. Am Ende nimmt der alte Theatermann doch eine Filmrolle an – in einer Verfilmung des „Ulysses”, bei der John Malkovich den Regisseur spielt –, und muss dort vor dem Spiegel in der Garderobe mit ansehen, wie er mit Schminke und Perücke in einen jüngeren Mann verwandelt wird. Und in dieser endlosen Szene kann man mitfühlen, wie der Schmerz in ihm hochkommt, als er im Spiegel sieht, dass die Jugend für ihn nur noch Karikatur und Fratze bedeutet. Am Ende hält er es einfach nicht mehr aus und geht – wie der Titel sagt – einfach nach Hause, um sich auszuruhen. Vielleicht auch, um zu sterben.
Schamesröte im Gesicht der Welt
So einfach und so schön kann man so etwas zeigen – aber vielleicht muss man dazu erst 93 Jahre alt werden. Aus dem Kino der quälend langen Blicke hat Todd Solondz eine Kunstform gemacht. Schon in „Happiness” hat er mit dieser Methode der Welt die Schamesröte ins Gesicht getrieben, in „Storytelling” treibt er dieses Spiel noch weiter. Keine Situation ist peinlich genug, keine Niederlage vernichtend genug, kein Pickel groß genug, als dass der Amerikaner nicht noch eins draufsetzen könnte: Ein Spastiker wird für seine Schreibversuche verspottet; sein schwarzer Dozent zwingt seine Studentinnen beim Sex zu sagen „Nigger, fuck me hard!”; und ein kleiner Besserwisser piesackt seine lateinamerikanische Hausangestellte, bis die in ihrer Verzweiflung die ganze Familie umbringt.
Solondz teilt das in zwei Episoden, „Fiction” und „Non-Fiction”. Wo man aber bei „Happiness” noch den Eindruck hatte, mehr oder minder realen Menschen beim Versagen zuzusehen, da ist in „Storytelling” alles zur Karikatur überzeichnet. Der Film scheint vor lauter Selbsthass, der sich über die Mittelmäßigkeit amerikanischer Vorstädte entlädt, geradezu zu implodieren. Zwar sagt der schwarze Dozent einmal, alle Wahrheit verwandle sich durchs Erzählen in Fiktion. An Solondz’ Film kann man jedoch sehen, dass der Umkehrschluss nicht unbedingt zutrifft.
Auf dem schmalen Grat von Fiktion und Wahrheit, echten und eingebildeten Gefühlen wandelte auch Catherine Corsinis „La répétition”. Zwei Freundinnen, Emmanuelle Béart und Pascale Bussières, von Kindesbeinen an durch ein Übermaß von Gefühlen verbunden, verlieren sich aus den Augen und treffen sich Jahre später zufällig wieder. Sie merken: Alles ist noch wie einst. Und sie übersehen: Sie haben nichts dazugelernt. Einst hat sich die Zurückhaltendere von beiden versucht, sich das Leben zu nehmen, was die andere nie erfahren hat. Die Frage ist also, ob es ihnen diesmal gelingt, die Bremse zu ziehen, bevor es zu spät ist.
Die beiden lieben sich, aber es fehlt ihnen die Schleuse, die den Fluss solcher Gefühle regelt. Es gibt nur Zuviel oder Zuwenig, nur Alles oder Nichts – so wird die Liebe zum grausamen Spiel. Eine richtige Mitte findet der Film dabei selbst nicht: jedes Bild, jede Geste wird zum Indiz, zum Beleg. Das ist auf Dauer Kräfte raubend, aber mitunter auch mitreißend. Übrigens spielt Dani Levy hier eine Nebenrolle, so wie Franka Potente bei Todd Solondz, beide beachtlich. Das deutsche Kino lebt also – anderswo.
In Cannes tobt unterdessen eine Schlacht um Jean-Pierre Jeunets Film „Le fabuleux destin d’Amélie Poulain”, der momentan ganz Frankreich verzaubert, aber nicht in den Wettbewerb aufgenommen wurde. Es gibt nicht wenige Stimmen, die behaupten, der Film wäre ein sicherer Cannes-Sieger gewesen. Auswahlchef Thierry Frémaux musste sich also zu Wort melden und sagen, man habe eine sehr frühe Videofassung gesehen und nichts garantieren können, weshalb die Produzenten einen Kinostart vorgezogen hätten. Klingt nicht so richtig überzeugend, weshalb die französische Exportunion Unifrance nun den Film erstmal allen ausländischen Journalisten zeigt – als wollten sie Öl ins Feuer gießen. Frémaux darf also gleich in seinem ersten Jahr als Chef erleben, was für ein Eiertanz dieser Job sein kann.
Was den tatsächlichen Ausgang angeht, weiß man naturgemäß am ersten Wochenende noch gar nichts, für nahezu jeden Film findet sich irgendein Fürsprecher. Den einzigen Anhaltspunkt bietet fürs erste das Jurymitglied Terry Gilliam, der bei der Pressekonferenz fröhlich sein T-Shirt entblößte, auf dem stand: „Can be bribed”. Kann bestochen werden. Dann mal los.