22. Mai 1999 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1999 (2)

52. Filmfestspiele in Cannes

Was lange währt

Filme von Kitano, Dumont, Iosseliani, Schmid und Oliveira

Natürlich haben Kritiker immer was zu meckern. Da macht sich nicht einmal die Semaine International de la Critique Illusionen. Auf ihrem Plakat sieht man einen Kinosaal, in dem unter lauter Männlein mit großen Augen und freundlichem Lächeln eine einzige Figur sitzt, die grimmig blickt und vor Ärger richtig rot angelaufen ist – das soll der Kritiker sein. Spielverderber, Miesepeter, beleidigte Leberwurst. Von mir aus.

Es gäbe beispielsweise zu bemängeln, daß die Filme immer länger werden. Unter zwei Stunden macht es kaum mehr einer, der Trend geht eher zu den Dreistündern – aber die wenigsten Filme wissen auf die Frage Warum eine befriedigende Antwort. Kann sein, daß man bei mehreren Filmen pro Tag, während draußen die Sonne scheint, ungeduldiger und geiziger mit seiner Zeit ist als ein normaler Besucher, der Abends für sein Geld etwas geboten bekommen möchte. Aber warum etwa „Nos vies heureuses” von Jacques Maillot, ein charmanter, aber läppischer Geschichtenreigen im Stile von „Das merkwürdige Verhalten der Großstädter”, 145 Minuten dauern muß, ist so unerklärlich wie die Frage, was er im Wettbewerb zu suchen hat.

Geschichtenerzählen hat auch etwas mit Disziplin zu tun, und daran mangelt es bei fast allen Beiträgen. Die Losung scheint überall zu heißen: Zuschauen, entspannen, nachdenken. Das bedeutet aber vor allem: Kaum einer hat den Mut, die Zügel in die Hand zu nehmen und die Dinge voranzutreiben. Weil kaum einer weiß, was er eigentlich erzählen möchte. Da ist es kein Wunder, daß sich mehr und mehr die dänische Dogma-Gruppe und ihre Nachahmer zur einzig treibenden Kraft im Weltkino entwickelt haben. Mit ihrem beschränkten Equipment und Budget bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, als die Dinge in Bewegung zu halten – alle Beschaulichkeit würde nur auf die Mängel der Technik und Produktionsweise aufmerksam machen.

Und es geht weiter: In Cannes wurde ein Vertrag für 16 weitere Dogma-Filme mit Budgets unter einer Million Dollar abgeschlossen. Um so erstaunlicher, daß der Wettbewerb, nachdem er letztes Jahr Thomas Vinterbergs „Fest” ausgezeichnet hat, diesmal verschlafen hat, an diese Entwicklung anzuknüpfen. Jean-Marc Barrs „Lovers” lief nur im Markt, und „The Blair Witch Project” wurde in der Quinzaine gezeigt. Der hat zwar mit den Dogma-Leuten um Lars von Trier nichts zu tun, lebt aber von deren Regeln.

Daniel Myrick und Eduardo Sanchez haben erst im Internet eine Hexenlegende um die Blair Witch in den Black Woods Hills gestrickt und dann einen Film dazu gedreht. Dies, so schicken sie voraus, seien die wiedergefundenen Aufnahmen dreier junger Filmemacher, die 1994 bei den Dreharbeiten zu „The Blair Witch Project” verschwunden sind. Von dieser Erfindung lebt ihr Film: Man sieht, wie das Trio sich aufmacht, Interviews führt, in den Wald geht, sich dort verliert, über bedrohliche Zeichen stolpert, in Panik gerät und ihr bitteres Ende findet. Dies ist also sozusagen ein Horrorfilm, der so tut, als sei er live aufgezeichnet. Das gnadenlose Videokameraauge verbirgt mehr als es zeigt und zeugt von der Lust des Kinos, dem Schrecken ins Gesicht zu schauen, obwohl man fast nichts zu sehen bekommt. Das Abenteuer findet im Kopf des Zuschauers statt.

Das dämpft zwar manchmal die Wirkung, aber sicher ist dieser Film in seiner Konsequenz und seiner Phantasie spannender als das meiste, das im Wettbewerb lief. Vor allem ist dieser Film eben auch auf Video gedreht und läßt ahnen, daß die kleinen digitalen Kameras für das Kino eine ähnliche Revolution bedeuten werden wie zuletzt die Nouvelle Vague.

Das waren die letzten, die so frech waren wie die Dogma-Leute, indem sie behauptet haben, Papas Kino sei tot, und mit ihren Kameras auf die Straße gegangen sind. So wird aus dem Studentenulk von ein paar Dänen, mit Keuschheitsgelübde, Zertifikat und dem ganzen Brimborium, das nächste große Ding in dieser Industrie. Kein Wunder. Was wenig kostet, wirft schneller Gewinne ab. Verglichen damit wirkt der Rest schnell wie ein alter Hut: Manoel de Oliveira adaptiert in „Der Brief” einen Roman aus dem 17. Jahrhundert für die Moderne, aber das Ergebnis ist nicht nur erstaunlich betulich, sondern schauspielerisch auch besonders blutlos. Daniel Schmid versucht sich in „Beresina” an einer politischen Satire über die Schweiz, die selbst dem altbackensten Kabarett die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Und Otar Iosseliani entwirft in „Adieu, plancher des vaches” einen Reigen im Stile von „Günstlinge des Mondes”, der mehr Einfälle hat, als selbst der überbordensten georgischen Phantasie gut tut. Aber immerhin behält er im Chaos die Übersicht und bringt seine Geschichte mit Lebensweisheit voran.

Takeshi Kitano hat entgegen seiner Ankündigung doch nicht als Sumo-Ringer den roten Teppich erobert, sondern ist brav im Smoking erschienen. Auch sein Wettbewerbsbeitrag „Kikujiros Sommer” hält nicht, was man sich davon versprochen hat. Die mitunter ergreifende Reise eines alten Taugenichts (Takeshi selbst) mit einem kleinen Jungen nach dessen Mutter sprüht zwar vor Einfällen, Gags und Spielereien, aber entkommt dem Muster des Genres letztlich doch nicht. Nach der ritualisierten Strenge seines Venedig-Gewinners „Hana-Bi” wirken seine erzählerischen Manöver hier oft wie bloße Mätzchen. Was bringt es, das Geschehen durch die Facettenaugen einer Libelle oder im Spiegel einer drehenden Radkappe zu sehen? Aber natürlich versöhnt Takeshis lakonische Präsenz, die hier eher der Lasterhaftigkeit verpflichtet ist, mit einigen Längen dieser zweistündigen Odyssee.

Zweieinhalb Stunden sogar dauert „L’Humanité” von Bruno Dumont, der deswegen auch fast überall durchgefallen ist. Der Regisseur der vielgepriesenen „La vie de Jesus” erlaubt sich zwar tatsächlich einige unnötige Längen, aber immerhin hat seine Langatmigkeit System. Die Geschichte eines Dorfpolizisten auf der Suche nach dem Mörder eines jungen Mädchens lebt geradezu von der geduldigen Länge der Einstellungen.

Was Dumonts Erstling auszeichnet, findet sich also auch hier: verstörende Körperlichkeit, verzweifelte Leere, verschwenderische Panoramen. Der Held ist ohnehin ein bißchen langsam, aber auch sonst wird in dem Kaff Bailleul in der Normandie nicht viel geredet. Was die Leute bewegt, ist schwer zu begreifen. Aber genau das ist das Spannende: Wie diese Menschen auf die sie umgebende Leere reagieren. Und wie der Held, der Frau und Kind verloren hat, buchstäblich die Schuld der Welt auf sich zu nehmen versucht, in dem er an den Schuldigen schnuppert wie ein Tier. „L`Humanite” ist kein angenehmer Film, manchmal ist er sogar abstoßend, aber er bleibt stets faszinierend. Und das kann man nur von den wenigsten Filmen hier behaupten.

Es bleiben noch Greenaway, Lynch und Sayles. Aber die Favoriten heißen Almodovar und Egoyan – wobei letzterer den Vorteil hat, daß sein kanadischer Landsmann Cronenberg der Jury vorsitzt.
MICHAEL ALTHEN

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