25. Mai 1999 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1999 (1)

Das dunkle Ende von Glaube, Liebe, Hoffnung

Zum Abschluß der 52. Filmfestspiele von Cannes bringt die Jury alle auf die Palme, indem sie zwei krasse Außenseiter auszeichnet

Wenn wir beim Pferderennen wären, dann hätte man mit einer Wette auf die Hauptpreise in Cannes eine gigantische Quote erzielt. Wer die Sieger erraten hätte, müßte wahrscheinlich bis an sein Lebensende nicht mehr arbeiten.

Vor dem letzten Wochenende sah es so aus, als sei Pedro Almodóvars „Alles über meine Mutter” allenfalls von Atom Egoyans „Felicias Geschichte” aufzuhalten und als würden Pedros Frauen und Egoyans Hauptdarsteller Bob Hoskins die Preise unter sich ausmachen. Dann kam David Lynch mit seiner „Straight Story” und seinem Helden Richard Farnsworth – und alles war wieder offen. Aber diese drei Filme führten in sämtlichen Listen und Kritiken mit so deutlichem Abstand, daß man auf sie jederzeit viel Geld gesetzt hätte. Die schlechtesten Wertungen wiederum bekamen Bruno Dumonts „L’Humanité” und Alexander Sokurows „Moloch” – langatmig und langweilig, umständlich und unverständlich. Und mit „Rosetta”, der als letzter Wettbewerbsfilm lief, hatte offenbar nicht einmal das Festival selbst gerechnet – er wurde nur in einer einzigen Nachmittagsvorstellung gezeigt und war für die meisten Kritiker nur noch eine Pflichtübung kurz vor der Abreise.

Es kam aber alles anders: Die Goldene Palme der 52. Internationalen Filmfestspiele von Cannes ging an „Rosetta” von den belgischen Brüdern Luc und Jean-Pierre Dardenne und die eine Hälfte des Preises für die beste Hauptdarstellerin an ihre Heldin Emilie Dequenne. Die andere Hälfte ging an Séverine Caneele, die Hauptdarstellerin von Bruno Dumonts „L’Humanité”, der dazu noch den Großen Preis der Jury bekam und den Preis für den besten Hauptdarsteller Emmanuel Schotté – auch er wie die beiden Frauen ein Amateur. Den Preis fürs Beste Drehbuch bekam Sokurow für „Moloch”, einen weiteren Jurypreis Manoel de Oliveira für „Der Brief” und einen technischen Preis Chen Kaiges „Der Kaiser und die Mörderin”. Für die Favoriten blieb nur ein Regiepreis für Pedro Almodóvar. All diese Entscheidungen der Jury unter Vorsitz von David Cronenberg wurden gelinde gesagt mit wenig Begeisterung aufgenommen.

Das ändert aber nichts daran, daß die Entscheidungen nicht mutwillig, sondern mutig sind – und vor allen Dingen auch richtig. Und ohne zu wissen, welchen Einfluß Regisseure wie André Téchiné, Doris Dörrie, Maurizio Nichetti und George Miller oder Schauspieler wie Jeff Goldblum, Holly Hunter und Dominique Blanc hatten, so kann man doch sagen, daß die Preise David Cronenbergs Rolle als Botschafter des Absonderlichen und Fremdartigen aufs schönste bestätigen. Und so viel ist sicher: Keine anderen Filme in diesem Wettbewerb waren so kraftvoll, sperrig und verstörend wie „Rosetta” und „L’Humanité”, keine Beiträge so nah an den Menschen und so fern allen Konventionen, mit denen das Kino uns seine Illusionen verkauft.

Die Gebrüder Dardenne, die zuletzt mit „La promesse” auf sich aufmerksam gemacht haben, erzählen in „Rosetta” die Geschichte eines Mädchens, das mit ihrer Mutter, die Alkoholikerin ist, auf einem Campingplatz lebt und verzweifelt nach Arbeit sucht. Ihr Leben ist ein einziger Kampf, in dem sie sich auf eine zutiefst kindliche und doch auch allzu erwachsene Weise eingerichtet hat. Verbissen und verschlossen bahnt sie sich ihren Weg durch eine trübe, verregnete Welt, behandelt die versoffene Mutter wie ein ungezogenes Kind und findet nur bei einem jungen Waffelverkäufer kurze Momente der Ruhe. Sonst ist sie ständig unterwegs, von einem Teilzeitjob zum nächsten, von einem Tiefschlag zum anderen. Und die Kamera ist ihr ständig auf den Fersen, rückt ihr permanent so auf den Leib, daß Rosettas Anstrengungen und ihre Selbstaufopferung auf eine Weise körperlich spürbar werden, daß man hinterher zerschmettert aus dem Kino ins Licht taumelt.

„Rosetta” ist packend und enervierend wie sonst nur die Filme der „Dogma”-Leute – und in gewisser Weise tragen die Dardenne-Brüder – und mit ihnen die Jury – jener Entwicklung im Weltkino Rechnung, wonach auch das Autorenkino mittlerweile träge und unbeweglich geworden ist und eine Erneuerung nur noch von ganz unten stattfinden kann – zurück zur Nahtstelle zwischen Realität und Fiktion.

„L’Humanité” geht den entgegengesetzten Weg und kommt ans gleiche Ziel. Bruno Dumont erzählt in extrem langen, durchkomponierten Einstellungen von der Suche nach einem Kindsmörder – und auch er findet nur das verzweifelt ausdruckslose Gesicht der Realität, die sich allen Lösungen und Hoffnungen verweigert. Das ist in Kriegszeiten womöglich der einzig halbwegs plausible Schluß, zu dem das Kino kommen kann.

Andererseits hat David Lynch mit „A Straight Story” einen Film gedreht, der sich aller mutwilligen Mätzchen enthält und die Story seines Helden Alvin Straight tatsächlich ganz ungewohnt straight erzählt. Der Mann ist 73 und halbblind, und als er vom Schlaganfall seines drei Jahre älteren Bruders hört, setzt er sich auf seinen Rasenmäher und fährt von Iowa nach Wisconsin, um sich mit ihm zu versöhnen. Lynch nimmt die Entdeckung der Langsamkeit wörtlich – nie ist der Film schneller als sein Held. Die Straßen und Felder ziehen so langsam vorbei wie die Erinnerungen, an die Kinder, an die Familie, an den Krieg. Wo hinter der Normalität bei Lynch sonst Schreckgespenster lauerten, da findet er hier ganz alltägliche Figuren, die viel aufregender sind als seine bisherigen Visionen. „A Straight Story” ist herzerweichend und bildschön und schon gar nicht das, was man von einem Lynch-Film erwartet – aber er fällt eben auch nie aus dem Rahmen dessen, was man vom Kino so oder anders kennt. Er versöhnt uns mit der Welt – und das ist vielleicht nicht das, wonach der Welt momentan wirklich zumute ist.
MICHAEL ALTHEN

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