25. Mai 1998 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1998 (1)

51. Internationale Filmfestspiele von Cannes

Lange Blicke

Im Ungleichgewicht: Filme aus Deutschland, den USA, Frankreich

Die Amerikaner waren unzufrieden: Hatten die Studios nichts besseres anzubieten als Gilliams überdrehten „Fear and Loathing in Las Vegas” und Mike Nichols’ untermotorisierten „Primary Colors”? Gab es unter den Independents keine interessanteren Filme als die von John Turturro, Hal Hartley, Paul Auster, Stanley Tucci? Und dazu außer Konkurrenz Lappalien wie „Blues Brothers 2000”, „Goodbye Lover” oder „Dark City”? Wo waren Robert Redfords „Pferdeflüsterer”, Warren Beattys „Bulworth” oder Spike Lees „He Got Game”?

Wenn man zurückblickt auf die Berlinale muß man sagen, daß nicht nur die Amerikaner dort spannender waren – „Jackie Brown”, „The Big Lebowski” und „Wag the Dog” –, sondern auch sonst besser besetzt waren: Neil Jordans „Butcher Boy”, Jim Sheridans „Boxer” oder „Das Leben ist ein Chanson” von Alain Resnais. Cannes kann da nicht mithalten – und dennoch wird ihnen Berlin kaum den Rang streitig machen können. Der Kudamm ist einfach keine Croisette, es gibt im Februar dort keine Frauen, die auf zu hohem Schuhwerk und in zu knappen Kleidern ihren Hintern durch die Menge balancieren, und wer sich dort mit dem Handy auf der Straße wichtig machen will, dem frieren die Finger ab. Februar ist nicht Mai – und unter dem Pflaster liegt einfach kein Strand.

Die Deutschen haben gejammert, daß es der deutsche Film bei den Franzosen so schwer habe. Darauf kann man nur erwidern, daß in Berlin, wo es der deutsche Film leichter hat, im Wettbewerb auch nur „Das Mambospiel” lief. Vielleicht liegt es doch nicht an den Franzosen, sondern am deutschen Film – auch wenn man sich vorstellen kann, daß der eine oder andere Film mit dem Niveau in Cannes durchaus hätte mithalten können. Für Angela Schanelecs „Plätze in Städten”, der als einziger deutscher Beitrag in der Reihe „Un certain regard” lief, mußte man sich jedenfalls nicht genieren, obwohl vergleichsweise wenige Zuschauer gekommen waren und von den wenigen viele entnervt gingen. Den Titel darf man durchaus programmatisch verstehen. „Plätze in Städten” sind jene Orte, die dem Blick kaum einen Halt bieten, aber jene Leere besitzen, die sich im Gemüt einnistet: Bushaltestellen, Turnhallen, Wohnsiedlungen.

Dort spielt sich die Geschichte einer Schülerin ab, die nach Paris fährt, einen jungen Mann trifft, zurück in Deutschland feststellt, daß sie schwanger ist und wieder nach Paris fährt. Aber mit solchen Abläufen kommt man dem Film nicht bei, weil die Kamera jede Einstellung so lange hält, bis fast jede Hoffnung auf einen Fortgang der Handlung geschwunden ist.
Das ist die Schwäche des Films, daß sein ästhetisches Konzept zu bald durchschaubar wird und die wiederkehrenden Kompositionen von Fremdheit und Unbehaustheit zu wenig bieten. Wenn sich die Menschen wieder mal minutenlang anschweigen, dann wirkt das fast schon wie eine Karikatur jenes deutschen Films, gegen den die Beziehungskomödien das Wort ergriffen haben. Andererseits gibt es auch wunderschöne Momente, wenn etwa zwei Mädchen vor den großen Glasscheiben des Schwimmbads zur Musik von Joni Mitchell in ihren Badeanzügen tanzen. Und wenn die Regisseurin dann auch mal ihre Schauspielerinnen in Großaufnahme zeigt, merkt man, daß es immer noch die Gesichter sind, welche die schönsten Geschichten erzählen.

Zwei Filme im Wettbewerb haben sich daran gehalten. Lodge Kerrigan erzählt in „Claire Dolan” die Geschichte einer Prostituierten, die nach dem Tod ihrer Mutter aus dem Gleichgewicht gerät. In der geometrisch kühl photographierten Architektur von New York saugt sich der Blick zwangsläufig am Gesicht von Katrin Cartlidge fest, die man aus „Naked” kennt und deren eigenwillige Schönheit widerspiegeln muß, was die Geschichte ausspart.

Aber während man noch denkt, ihre Darbietung sei das Aufregendste, was der Wettbewerb zu bieten hatte, kommt Benoit Jacquots Mishima-Verfilmung „L’école de la chair” daher, in der Isabelle Huppert nicht nur schön ist wie nie, sondern auch noch vorführt, was ein Gesicht ausdrücken kann, ohne daß die Imagination durch das trübe Geschäft der Prostitution beflügelt wird. Sie spielt eine Geschäftsfrau, die einen bisexuellen Barmann kennenlernt, der sich seiner Attraktivität nur zu bewußt ist. In ihren Augen kann man sehen, wie ihre Emotionen und ihr Selbstbewußtsein um die Vorherrschaft ringen, und die schönste Idee dabei ist, daß sie immer wieder von ihren Tränen verraten wird. So hartherzig sie sich auch geben mag, so schnell werden doch ihre Augen feucht und erzählen von einer Frau, die alles unter Kontrolle hat, nur ihr Herz nicht.
Die Franzosen haben keinen Grund, sich zu beklagen. Obwohl André Techinés Film mit Juliette Binoche nicht dabei war, und auch Nicole Garcias „Place Vendôme” mit Catherine Deneuve nicht, gibt es im zweiten und dritten Rang jederzeit Regisseure und Schauspielerinnen, die sie würdig vertreten können. Und wenn Patrice Chéreau und Claude Miller nicht jedermanns Sache waren, gab es eben Eric Zonca und Jacquot, die eingesprungen sind. Und auch dort, wo nicht ein Gesicht wie das von Sandrine Kiberlain in „A vendre” einen Film zusammenhält, funktioniert das französische Kino.
Claude Mourieras erzählt in „Dis-moi que je rêve” von einer jungen Bauernfamilie, deren zurückgebliebener Sohn immer wieder für Aufregung sorgt. Aber allen Versuchen, ihn in ein Heim einweisen zu lassen, widerstehen sie gemeinsam, obwohl es immer wieder zu Reibereien kommt. Wenn es einen Film gab, der ein wirksames Gegengift gegen all die Geschichten von familiärem Mißbrauch war, dann dieser kleine, lebendige und zutiefst menschliche Film aus der Provinz. Wer solche Leute in seinen Reihen hat, braucht sich keine Sorgen zu machen.

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