30. Mai 1995 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1995 (2)

Festival International du Film

Stadt, Land, Fluß . . .

Die Quinzaine des Réalisateurs in Cannes: Stadtneurotiker im Potemkinschen Dorf

Robert Mitchum hat einmal gesagt, das Kino sei einst erfunden worden, um die Leute auf Jahrmärkten abzulenken, damit sie nicht merken, wie ihnen das Geld aus der Tasche gezogen wird. Daß er damit nicht ganz unrecht hat, ist an kaum einem anderen Ort so deutlich spürbar wie in Cannes. Jeder zieht jedem auf die ein oder andere Art das Geld aus der Tasche: die Produzenten den Verleihern, die Restaurants den Gästen, die Taschendiebe den Touristen, jüngere Damen den älteren Herren. Und wenn nicht dauernd an dem Eindruck gearbeitet würde, das Kino sei hier völlig außer sich, dann könnte man behaupten, daß es in Cannes eigentlich ganz und gar bei sich ist.

Das ist auch ganz in Ordnung so: Das Gefeilsche und Geschachere, das Marktgeschrei und die Augenwischerei gehörten schon immer dazu. Aber wenn man sich über die Croisette schiebt, kann einem mitunter schon das Gefühl befallen, Cannes sei nur ein Potemkinsches Dorf, in dem fleißig an der Fassade von etwas gearbeitet wird, was man noch Kino nennt und was in Wirklichkeit aber gar nicht mehr existiert.

Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn man dann im vierten Stock des Festivalpalais sitzt, wo sich Manuel de Olivera, Wim Wenders, John Malkovich und André Delvaux für das Projekt Lumière versammelt haben, das sich die Sicherung und Restaurierung des Filmerbes zur Aufgabe gemacht hat. Da ist dann die Rede von den Tausenden von Filmen, die für immer verloren sind, weil die alten Kopien zerfallen sind oder nie aufgehoben wurden. Diese Veranstaltung steht dann plötzlich in einem seltsamen Kontrast zu der Bilderflut, die zur gleichen Zeit in und um das Palais herum erzeugt wird. Das Kino ist hundert Jahre alt, und es hat schon erste Gedächtnislücken.

Es heißt, Wettbewerbs-Chef Gilles Jacob und Quinzaine-Direktor Pierre-Henri Deleau hätten seit fünf Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt. Auf diese Weise scheint fortzuleben, was einst die Regisseure 1968 zur Gründung ihrer eigenen Reihe bewogen hat. Wenn sich die Quinzaine des Réalisateurs vom Wettbewerb in irgendetwas unterscheidet, dann durch ein Programm, das zum einen näher an der Gegenwart ist und zum anderen näher am Einzelnen. Wo Jacob bei seiner Auswahl auf politische Relevanz Wert legte, da setzt sein Konkurrent Deleaueher auf private Perspektiven. Natürlich lassen sich Privates und Politisches nie ganz trennen, aber wenn es in der Compétition eher um die großen Zusammenhänge ging, dann standen in der Quinzaine eher die kleinen Schicksale im Vordergrund.

Womöglich ist das aber auch nur eine Sache des Budgets, die im prestigeträchtigeren Wettbewerb natürlich höher liegen. Wer weniger Geld hat, ist naturgemäß mehr auf die Wirklichkeit angewiesen. Und die läßt sich nirgends so gut fassen wie in der Großstadt.
Gerade zum Jubiläum des Kinos sollte man sich daran erinnern, daß diese Kunst ein echtes Kind der Großstadt ist. Die Vergnügungen, Ausschweifungen und Ablenkungen der Metropolen sind ihm deshalb eigentlich wesensverwandt. Aber daran, daß das Leben in den Städten zuhause ist, glaubt das Kino zumindest in der Quinzaine mittlerweile selbst nicht mehr. Wohin es auch blickt, sieht es nur noch Wahnsinn und Tod am Werk.

Eigentlich hat nur ein Film ungeniert der Lust an großstädtischen Ausschweifungen gefrönt, Cafe Society von Raymond De Felitta. Aus einem Skandal der Fünfziger Jahre, bei dem die öffentliche Moral an einem Sündenbock ein Exempel statuierte, hat der amerikanische Debütant ein Salonstück gemacht, das in den Bars und Nachtclubs Manhattans zuhause ist und Eleganz und Ekstasen der Großstadt beschwört. Das El Morocco und der Club 21 sind in Originalaufnahmen zu sehen, und dazwischen tummelt sich De Felittas night crowd, stets darauf bedacht, sich möglichst verrucht zu gebärden. Aber aus dem Spiel wird Ernst, und ihr sorgsam gepflegtes Image wird ihnen zum Verhängnis. Der Regisseur selbst tut sich schwer mit dem Ernst, aber eine amüsante Fußnote zum Leben der Metropolen ist sein Film allemal.

Cafe Society ist eine Ausnahme. Die Regel sind Filme, die zeigen, was die Großstadt mit den Menschen anstellt. In dem kanadischen Eldorado von Charles Binamé wird genauso die Melancholie der Vorstädte beschworen wie in Nella mischia von dem Italiener Gianni Zenasi. Hier ist es Montreal, dort Rom: die Helden an der Schwelle zum Erwachsensein haben das Überleben dort zwar von Kindesbeinen an gelernt, aber die ersten Deformationen sind auch hier bereits sichtbar. In Todd Haynes‘ Safe und Paulus Mankers Der Kopf des Mohren wird das dann auf die Spitze getrieben: Sie zeigen die Stadtneurotiker als pathologische Fälle, denen buchstäblich die Luft zum Atmen zu knapp wird und die deshalb im Wahn enden. Bei Haynes spielt Julianne Moore die Hausfrau aus dem San Fernando Valley, deren psychosomatische Störungen nach und nach zu allergischen Reaktionen auf die ganze Umwelt führen. Bei Manker ist Gert Voss ein Wiener Familienvater, den seine ökologischen Ängste in den Wahn führen. In beiden Fällen igeln sich die Helden in ihrer Wohnung ein: Die Kalifornierin hängt schließlich nur noch an der Sauerstoffflasche; der Wiener richtet in seiner Altbauwohnung einen Bio-Garten ein. Wo Haynes eher an den unmerklichen Irritationen in einer klinisch reinen Umgebung interessiert ist und sich an Antonionis Die rote Wüste orientiert, da läßt Manker seine Geschichte als Thriller eskalieren. Beiden gelingt es auf ihre Art, die Irritationen des Großstadtlebens sichtbar zu machen.

Was unter Erwachsenen sofort pathologische Züge annimmt, tendiert im Kinderland eher zum Märchenhaften. Der Junge aus Laurent Chevaliers L’Enfant noir und das Mädchen, das in Jafar Panahis Bandkonak-E Sefid (Der weiße Ballon) erfahren die großen Städte, in die sie vom Land kommen, als düstere Märchenwälder, in deren Labyrinthen sie sich bald hoffnungslos verlieren. In ihrer kindlichen Unbefangenheit halten sich Neugier und Furcht noch die Waage, aber andererseits sind die Städte in Guinea und im Iran auch noch weit von den industrialisierten Molochs unserer Welt entfernt. Panahis Film ist nach einem Drehbuch seines Landsmanns Abbas Kiarostami entstanden, der mit Wo ist das Haus meines Freundes? selbst schon einen der allerschönsten Filme über die Stadt als Labyrinth gedreht hat. Mit dieser ganz ähnlichen Geschichte hat Panahi nun die Camera d’Or für den besten Erstlingsfilm gewonnen.

Bei all diesen Filmen der Quinzaine, die sich mit den Städten und also unserer Gegenwart beschäftigen, kann man sagen: Es liegt etwas in der Luft. Und nirgends beweist sich die Kraft des Kinos schöner als darin, dies sichtbar zu machen.

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