Singen, tanzen, springen
Strandgut in der Bilderflut: Der Rest vom Fest in Cannes
Machen wir uns nichts vor: Um Preise geht es bei Festivals nur am Rande. An die Namen der Sieger in dieser Lotterie erinnert sich bald eh keiner mehr. Viel interessanter ist es doch, sich als Strandräuber zu betätigen und aus einem Meer von Filmen das aufzulesen, was von der Bilderflut angeschwemmt wird: im Keller des Festival-Bunkers dem neuen Rivette begegnen; in einer Sondervorführung den zweiten Film eines Mannes sehen, dessen wunderbares Debüt vor zwei Jahren in Berlin aufgetaucht war; oder in der französischen Reihe in etwas zu stolpern, wovon man zuvor außer dem Hauptdarsteller noch nichts gehört hat. Haut Bas Fragile von Jacques Rivette, . . . à la compagne von Manuel Poirier und Visiblement je vous aime von Jean-Michel Carré. Diese drei Filme haben auf dem Festival keine Wellen geschlagen; sie sind nichts als Strandgut, das am Rande des Trubels liegen geblieben ist. Aber es sind Gesichter und Geschichten dabei, die einem länger begleiten werden als die Namen der Sieger.
Es gibt Filme, über die dürfte man eigentlich nicht schreiben, über die müßte man singen. Jacques Rivettes Haut Bas Fragile ist so ein Film, der auf eine Art beschwingt, die sich kaum in Worte fassen läßt. Der Hinweis, daß die Figuren mitunter zu tanzen und zu singen beginnen, um dem Überschwang eines Moments Ausdruck zu verleihen, wird die meisten eher verschrecken, weil sie sich kaum eine Vorstellung davon machen können, mit welcher spielerischen Selbstverständlichkeit die Dinge wie die Herzen in diesem Film in Bewegung geraten.
Rivette wagt eine Hommage an Kollegen wie Demy, Varda oder Rohmer, in der die Verwicklungen dreier Mädchen und diverser Männer um sie herum mit einer Laune in Szene gesetzt sind, wie sie die Nouvelle Vague in ihren besten Zeiten auszeichnete. Rivette läßt seine Erzählung durchs hochsommerliche Paris treiben. Mal wird sie gefangen genommen von der Anmut seiner drei Heldinnen, mal abgelenkt von der Lust, ein Chanson bis zu Ende zu hören. So lebhaft und entspannt kann man vermutlich nur erzählen, wenn man nichts mehr zu beweisen und vor allem nichts mehr zu verlieren hat.
Manuel Poirier, dessen La petite amie d’Antonio bereits der schönste Film der vorletzten Berlinale war, erzählt in . . . à la campagne von der Freiheit der Provinz und davon, wie sie zur Einsamkeit werden kann. Der viel zu früh verstorbene Benoit Regent spielt hier eine seiner schönsten Rollen als Mann, der ein Leben auf dem Lande versucht. Er lernt ein Mädchen (Judith Henry) kennen, die gerade aus dem Gefängnis kommt, fängt etwas mit ihr an, aber erkennt zu spät, daß sie die Richtige gewesen wäre. In einer wunderbaren Szene sitzen die beiden nach der ersten Nacht gemeinsam beim Kaffee, und sie beginnt zu weinen – und in der Zeit, die er braucht zu reagieren, wird die ganze Kluft zwischen einem durchschnittlichen und einem besseren Film spürbar.
Jean-Michel Carré schickt in Visiblement je vous aime einen straffälligen Jugendlichen (Denis Lavant aus Die Liebenden von Pont-Neuf) zur Rehabilitierung in ein Heim mit geistig Behinderten im Süden. Den Weg von seiner anfänglichen Ablehnung bis zu seiner Integration schildert er auf fast dokumentarische Weise. Wie sich nach und nach die Perspektive verändert, ist dabei weniger didaktisch als praktisch nachgezeichnet. Das Behinderten-Projekt Le Corral gibt es tatsächlich, und der Film funktioniert selbst wie jene Art von Integration, die dort praktiziert wird. Wie hier eine fiktive Figur in eine reale Umgebung eingeschleust wird, das wirkt fast als Sinnbild für die Art, wie sich auch das europäische Kino in unsere Realität integriert.
Paris im Sommer, ein Dorf in der Normandie, ein Haus im Süden: drei Orte, in denen man sich auf eine Weise heimisch fühlt, daß man hinterher Mühe hat, wieder ins Licht aufzutauchen. Die drei Filme, die dort spielen, besitzen bei aller Unterschiedlichkeit eine Zärtlichkeit des Blicks, eine Aufrichtigkeit des Gefühls und eine Leichtigkeit des Spiels, die das Herz aufgehen lassen. Und bei aller Geduld, die die drei Regisseure für ihre Helden aufbringen, herrscht in ihren Filmen eine Kurzweil, die sich aus einer Genauigkeit des Beobachtens speist, und eine Freiheit, die sich der Liebe zu den Gegenständen verdankt. In diesen drei französischen Filmen kann man all das sehen, was uns Hollywood niemals wird zeigen können: die Dinge des Lebens, die Dinge unseres Lebens.