29. März 1995 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Oscars | Academy Awards 1995

Im Land des Vergessens

Forrest Gump räumt sechs Oscars ab

Den besten Witz des Abends vorweg: Was hat Arnold Schwarzenegger zu Maria Shriver gesagt, als er sie zum ersten Mal zum Essen ausführen wollte? Antwort: ‚Eat Drink Man Woman.‘

Der bekannte New Yorker Talkmaster David Letterman hatte Whoopi Goldberg abgelöst und am Montag Abend im Shrine Auditorium in Hollywood zum ersten Mal als Gastgeber durch die Oscar-Nacht geführt. Es gibt Jahre, da ist der Ausgang des Abends so vorhersehbar, daß die Aufmerksamkeit in erster Linie auf solche Begleitumständen fällt. Wie, lautete also die meistdiskutierte Frage, wird sich Letterman schlagen? Wird er seine Bestenlisten und seine Straßenumfragen, die Markenzeichen seiner Late Night-Show, auch hier unterbringen? Er hat seine Sache ordentlich gemacht, ohne den Abend in ein Letterman-Special umzufunktionieren. Aber die Witze waren schon mal besser.

Forrest Gump hat erwartungsgemäß in den wichtigen Kategorien gewonnen: Film, Regie, Buch, Hauptdarsteller, dazu noch Schnitt und Spezialeffekte. Sechs Oscars bei 13 Nominierungen ist keine grandiose Ausbeute, aber Robert Zemeckis‘ Hit wird sich dennoch tiefer einprägen als mancher andere Sieger der letzten Jahre. Die knapp 5 000 Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences haben im Grunde nichts anderes getan, als den Rang des Films in der amerikanischen Seelenlandschaft zu bestätigen. Dort taugt der Film als Instrument, um sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen – um jeden Preis, auch den der Lüge. (siehe auch Seite 4.) Grob gesprochen, könnte man sagen, daß Schindlers Liste im letzten Jahr ein Film gegen das Vergessen war, Forrest Gump nun ein Film zum Vergessen.

Quentin Tarantino mag zwar vielleicht als Erneuerer in die Geschichte eingehen, aber Pulp Fiction mußte sich mit einem Oscar fürs beste Drehbuch begnügen. Vermutlich war der Film in seiner lakonischen Mischung aus Gewalt und Poesie seiner Zeit einfach noch ein paar Takte zu weit voraus. Zumal sich die Academy in den letzten Jahren mit den Oscars für weitgehend vernachlässigte Genres wie bei Das Schweigen der Lämmer und Erbarmungslos für ihre Verhältnisse ziemlich weit vorgewagt hatte, und nun mit Schindlers Liste und Forrest Gump offenbar erst einmal wieder Luft holen muß, ehe sie allzu große Sprünge riskiert.

Von Verlierern kann man in dem Sinn also nicht sprechen, wenn Die Verurteilten, Quiz Show oder Vier Hochzeiten und ein Todesfall leer ausgegangen sind – die Nominierungen dürfen wie bei den Regisseuren Woody Allen und Krzysztof Kieslowski bereits als Auszeichnung gelten. Aber all diese kleineren oder größeren Ungerechtigkeiten verblaßten ohnehin vor dem großen Moment des Abends, dem schönsten Geschenk, das sich das Kino zu seinem hundertsten Geburtstag machen konnte: der Verleihung des Life Achievement Awards an Michelangelo Antonioni.
Der große Italiener, der nach einem Hirnschlag halbseitig gelähmt ist, kam an der Seite seiner Frau Enrica, die auch für ihn den Ehren-Oscar aus der Hand von Jack Nicholson entgegennahm und für ihn vor einem Publikum, das sich von den Stühlen erhoben hatte, Grazie sagte. Von Filmen wie seinen kann Hollywood nur träumen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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