13. April 1995 | Süddeutsche Zeitung | Kunst, Rezension | Cités-Cinés 2

Die Zukunft hat begonnen, und sie sieht schon ziemlich alt aus. In der Pariser Trabantenstadt La Défense rund um die Grande Arche wurde die architektonische Generalprobe fürs nächste Jahrtausend bereits im letzten Jahrzehnt inszeniert, aber die Visionen aus Glas und Beton haben bereits Risse, und überhaupt wirkt die Utopie mittlerweile ziemlich angestaubt. Als in den achtziger Jahren La Défense in den Westen von Paris gestellt wurde, befiel Peter Handke das kalte Grausen, aber wenn man heute dort steht, kann man sagen: Die Zukunft bellt, aber sie beißt nicht. Vom Dach der Grande Arche betrachtet, wirkt selbst der Friedhof von Nanterre wie einer der unzähligen Parkplätze, die das Viertel umgeben: Die polierten Grabplatten glänzen in der Sonne wie Autodächer. Einen gespenstischeren Anblick als diesen hat der Frühling in Paris nicht zu bieten.

In La Défense also wird auf dem Hügel neben der silbernen Panoramakugel des Imax-Kinos seit Ende März die vermutlich größte Ausstellung zum Jubiliäum des Kinos inszeniert: Cités Cinés 2. Den Vorläufer haben vor acht Jahren – damals noch in La Villette – eine knappe halbe Million Leute besucht, die Kino zum Anfassen geboten bekamen: Cités-Cinés zeigte die Stadt als Bauch, dem das Kino entstiegen ist, und ließ die Besucher durch Kulissen wandeln, die dem Kino zur zweiten Natur geworden waren.

Weil der Organisator François Confino im Grunde schon damals das Jahrhundert aufgearbeitet hat, mußte er sich nun etwas Neues einfallen lassen. Der Blick zurück war durch die erste Ausstellung verbaut, der nach vorn führt vom Kino fort, also beschloß er, so zu tun, als schriebe man das Jahr 3000, wenn der Mensch die Erde längst verlassen hat und die Archäologen einer anderen Spezies nun vor der Aufgabe stehen, aus ein paar Kinobildern zu rekonstruieren, was für Wesen die Terraner gewesen sind. Tausend Jahre sind vergangen, und nun wandert man durch die Überreste einer untergegangenen Kultur, von der außer ein paar Bildern und ein wenig Unrat nichts übriggeblieben ist. Das Kino wird beim Wort genommen, und man muß versuchen, sich seinen Reim auf die Menschheit zu machen.

Die Losung heißt: Zurück in die Zukunft. Auf 4000 Quadratmetern wurden für über acht Millionen Mark 16 Säle eingerichtet, wo das Kino Zeugnis ablegen soll von dem weit entfernten 20. Jahrhundert, in dem der Mensch seinem Untergang entgegenstrebte. Wer sich auf dieses Gedankenspiel einläßt, kommt auf seine Kosten; jeder andere hat auch seinen Spaß. Denn das Bild, das das Kino hier von der Welt entwirft (oder das vom Kino hier entworfen wird), macht aus dem Menschen ein fremdes Wesen – und läßt das Fremde sehr menschlich erscheinen.

Im ersten Raum des Parcours ragt aus dem Nebel der schwarze Monolith aus Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum, umgeben von Monitoren im Staub, die zusammenhangslose Bilder aus Filmen von John Ford und Billy Wilder, Buster Keaton und George Lucas zeigen. Und so wie heutzutage die Zuschauer in 2001 rätseln, was wohl der Stein zu bedeuten hat, so soll man sich nun eben aus der Sicht des Jahres 3 000 fragen, was es mit dem Kino einst auf sich gehabt haben mag. Dann erscheint ein körperloser Kopf über einem Eingang und bittet ins vierte Jahrtausend, in eine Zukunft, die unsere Vergangenheit ist – oder umgekehrt. In eine Welt auf jeden Fall, die die unsere ist und auch wieder nicht.

An allen Ecken knallt und kracht, blinkt und dampft es. Es sind Kulissen aufgebaut, Mauerreste und Ruinenstücke, in denen sich Strandgut türmt, das unser Jahrhundert in der Zukunft angespült hat. Die Themen reichen vom Autokino über Explosionen bis zum Sex. Die ganze Filmgeschichte wird durchdekliniert, und das Banale und das Geniale gehen dabei Hand in Hand. Die Inszenierungen erinnern mitunter an Marcel Duchamps‘ surrealistische Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch. Wo man dem Kino nur mit den Mitteln des Theaters beizukommen versucht, ist die Ausstellung allerdings weniger gelungen als dort, wo das Kino zu seinem Recht kommt.

Am Amüsantesten ist das Love Hotel, in dem man auf einem schwankenden Luftkissen unter gigantischen Rosenblättern versuchen muß, aus Filmen wie King Kong, Nackte Kanone oder der Szene mit Meg Ryans falschem Orgasmus aus Harry und Sally Rückschlüsse auf das Paarungsverhalten der Gattung Mensch zu ziehen. Wo also die Vorstellung greift, den Wesen der Zukunft stünden keine anderen Zeugnisse als die Gezeigten zur Verfügung, da geht die Rechnung der Aussteller auf: Wenn man von Szenen aus Murnaus Faust oder Die zehn Gebote auf den Stand der Wissenschaft schließen muß, oder von Blade Runner und Intolerance auf unser gesellschaftliches Zusammenleben. An anderer Stelle wirkt die Mischung von Bild und Inszenierung wiederum etwas beliebig, und der Funke springt nicht von der Zukunft auf die Gegenwart über.

Auf einem Tisch sieht man in den Tellern Verwesungsbilder von Greenaway und in einer verstaubten Bibliothek läuft jener Film von Mike Bigelow, The Power of Ten, in dem der Blick aus dem All bis in die Welt der Atome rast. Im Raum mit den Explosionen kann man auf einem Monitor endlos Antonionis Explosion aus Zabriskie Point zusehen. Gut 200 Filmausschnitte wurden verwendet, und natürlich ist das Kino dabei weitgehend auf seine Effekte reduziert worden.
Gilles Nadeau, der Regisseur dieser Show, sagt selbst: ‚Bei Meliès haben sich die Erben geweigert, uns die Rechte zu überlassen. Für Modern Times waren die Ausschnitte zu teuer. Und natürlich gibt es auch Regisseure, die sich in diesem Zusammenhang nicht verschmelzen lassen. Unmöglich etwa, jemanden wie Wim Wenders oder Alain Resnais in meine Montage einzubauen. Ihre Filme haben einen so eigenen Rhythmus, daß sie sich nicht neben andere Filme stellen lassen. Adieu also Marienbad! Und adieu auch Paris, Texas!‘ Seine Skrupel ehren ihn zwar, aber gerade die Unbotmäßigkeit im Umgang mit der Kinogeschichte macht an anderer Stelle wiederum den Reiz dieser Ausstellung aus. Für Godards Weekend hat sich ja auch ein Platz gefunden.

In 16 Räumen wird der Übergang vom traditionellen zum virtuellen Bild vollzogen, um am Ende dann doch wieder den Menschen ins Spiel zu bringen. Man bekommt eine weiße Toga umgehängt und darf sich auf einem weichen weißen Boden vor einer Riesenleinwand zum Träumen niederlassen. Das Schiff des Baron Münchhausen zieht seine Spur durch den Sand, Brigitte Bardot wird von der Kamera umkreist, Mastroianni schwebt hoch über dem Strand, Judy Garland kommt nach Oz, und der Mensch tritt ein in das Land der eigenen Träume. Man mag von dem Hokuspokus dieser Ausstellung halten, was man will, aber am Ende kommt man mit dem schönen Gefühl ans Licht, daß das Kino doch irgendwie die Fortsetzung des Menschen mit anderen Mitteln ist.

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