18. Dezember 1998 | Süddeutsche Zeitung | Würdigungen | Junge Kritiker der SZ

Gleichheit für alle

In diesem Feuilleton war man erst angekommen, wenn man von Joachim Kaiser wahrgenommen wurde

Autor: Claudius Seidl

Es half nichts, wenn der eigene Name groß und versal in der Zeitung stand, es nützte wenig, wenn die Artikel mit der Zeit etwas länger werden durften und manchmal dreispaltige Überschriften bekamen: In diesem Feuilleton war man erst angekommen, wenn man von Kaiser wahrgenommen wurde. Er grüßte, laut und immer freundlich, sein „Grüß Gott” rollte ihm voraus, bevor er selbst die Redaktion betrat, und es schien ihn auch nicht wirklich zu stören, daß damals, in den Achtzigern, immer häufiger ein paar junge Männer vor den Schreibmaschinen hockten und die Termine notorisch überzogen. Zu dem, was diese Jungs in die Maschinen tippten, hatte er sich aber noch nie geäußert. Dann war Montag, und die Wochenendbeilage hatte meinen ersten langen Aufsatz gedruckt, eine sehr stürmische Hymne zum 101. Geburtstag von Raymond Chandler, und jetzt stand Kaiser in der Redaktion, seine Finger spielten mit der Brille, und er sagte: „Lieber Herr Seidl, ich fürchte, Sie haben Talent. ” Dabei schaute er Wolfgang Höbel an, der sofort abließ vom Schreiben einer Theaterkritik, mit der er viel zu spät dran war. Höbel strahlte, erlaubte sich dann aber doch den Hinweis, daß er leider der Höbel sei. Kaiser, unbeeindruckt, drehte sich um, ging auf Michael Althen zu und klopfte ihm auf die Schulter. Althens verlegenes Grinsen übersah er, mich auch.

Ein paar Wochen später sind wir ins Gespräch gekommen. Ein paar Jahre später wurde mir klar, daß Kaiser damals recht gehabt hatte. Manchmal sind junge Kritiker sehr verwechselbar.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


vier × fünf =