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11. April 2010 | Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung | Theater | Rede für Autorentheatertage

Mach mal deine Augen zu!

Was kann Theater besser als Kino? Wieso zieht es uns nicht so schnell über den Tisch? Vom Handwerk, vom Zauber der Sprache und dem Druck des Nicht-Wiederholbaren. Eine Rede

Mit Theater hatte ich noch nie etwas am Hut. Oder es ist mir zumindest auf eine Weise abhandengekommen, dass das, was ich übers Theater weiß, nicht im Geringsten zu irgendeiner Art von Expertise reicht. Ich war immer schon ein Kinogeher und hatte das Glück, daraus einen Beruf machen zu dürfen. Ich weiß also nicht, was sich in den letzten dreißig Jahren auf den Bühnen der Welt ereignet hat, und ich will auch gar nicht ausschließen, dass ich damit Wesentliches versäumt habe. Es ist nur einfach so, dass Theater nicht Teil meines Lebens war. Und wenn ich mich ihm nun nähere, dann mag der Verweis auf meine Ignoranz fast schon hochmütig klingen, aber das Gegenteil ist der Fall: Ich bin voll von einer Demut, die mir bei meinen ersten Begegnungen mit dem Theater als Abiturient oder Student völlig fremd gewesen war. Fast könnte man es also Scham nennen, wenn ich nun das Wort ergreife inmitten von Leuten, denen das Theater immer schon so viel mehr bedeutet hat und ohne deren Zeugnis diese Kunst so nicht überlebt hätte. Denn was im Kino die Filmkopien oder die DVDs sind, das sind im Theater die Erinnerungen seiner Zuschauer. Und zu denen kann ich nichts beitragen.

Als mich Ulrich Khuon vergangenen Herbst fragte, ob ich mir vorstellen könne, den alleinigen Juror der Autorentheatertage zu geben, da machte ich aus meiner Unkenntnis und meinen Vorbehalten keinen Hehl, aber er insistierte. Und ich ließ mich zu der Aufgabe überreden, aus hundertsechzig Stücken junger Autoren vier auszuwählen, die dann inszeniert würden. Vielleicht waren den Autorentheatertagen die Theaterkritiker ausgegangen, vielleicht versprach sich Khuon wirklich etwas von einem Blick von außen – ich sagte jedenfalls zu und erkannte bald, dass ich schlecht aufholen konnte, was andere mir auf ewig voraushaben. Ich konnte mich einfach nur in das Abenteuer stürzen, mit dem, was ich habe: mit einer Unbefangenheit, die keine Erwartungen kannte und auf nichts Rücksicht nehmen musste.

Und dann kam aber etwas hinzu, womit ich nicht wirklich gerechnet hatte: eine Neugier auf das, was ich nicht kannte und was sich mit jeder neuen Begegnung zu etwas auswuchs, was mir plausibel machte, was die Leute, dem Kino zum Trotz, ins Theater treibt. Ich fing plötzlich auch an, ins Theater zu gehen, und obwohl ich das anfangs eher pflichtbewusst tat, merkte ich bald, dass ich richtig gern hinging und darin ein Vergnügen fand, das ich nicht mehr am Kino maß, sondern als Erfahrung eigenen Rechts genoss.

Jeder, der immer schon ins Theater ging, wird darin nichts Besonderes erkennen, aber mir standen als Vergleich nur meine dreißig Jahre alten Abiturientenerfahrungen zur Verfügung, als ich im Theater immer nur erlebte, wie wenig es dem Kino entgegenzusetzen hatte. Oder besser: Wie selten es das, was es dem Kino entgegensetzen könnte, auch wirklich anwandte. Ich will nicht ausschließen, dass im München der frühen achtziger Jahre genau das trotzdem stattfand, aber ich hatte einfach kein Auge dafür.

Ich erinnere mich an einen Auftritt von Michel Piccoli auf dem Theaterfestival in einem Koltès-Stück, das in einer Reithalle aufgeführt wurde, aber darin sah ich nur eine Verlängerung seiner Filmpräsenz in etwas, das mir kaum zugänglich war. Und ich weiß noch, dass Peter Lühr in einer Aufführung von Robert Wilson den Lear gab und dass ich ganz allgemein für Lührs Welterfahrenheit genauso empfänglich war wie für Wilsons Bilder, aber irgendwie haben diese Erlebnisse keine Neugier geweckt. Vielleicht, weil sie erkauft waren mit zu vielen Aufführungen, in denen ich immer dachte: Das kann das Kino besser.

Ich glaube noch nicht einmal, dass ich unrecht hatte. Aber ich weiß schon, dass mir dadurch einige unbezahlbare Erinnerungen verlorengegangen sind, von denen ich womöglich gelesen habe, die aber im Theater eben nichts wert sind, wenn man sie nicht erlebt hat. Man möge mir verzeihen, wenn ich eine Binsenweisheit benenne, aber der Umstand, dass dem Kino die Aura der Einmaligkeit durch VHS, DVD und Download gründlich abhandengekommen ist, führt schon auch dazu, dass man sich im Theater auf andere Weise angesprochen fühlt. Was man auf der Bühne sieht, kennt keinen anderen Adressaten als den im Moment anwesenden Zuschauer. Und deshalb prägen sich Momente auf andere Art der Erinnerung ein als im Kino, wo ich deren Wiederholbarkeit bereits mitdenke und sie auf der Festplatte namens Gehirn im selben Moment zum Löschen freigebe.

Wenn also in „Öl“ Susanne Wolff von hinten an Nina Hoss herantritt und ihr in einem seltsamen Singsang fast zärtlich befiehlt: „Mach mal deine Augen zu!“, dann verhakt sich dieser Tonfall, der sich aufs letzte Wort wie auf eine Frage versteift, so unauslöschlich im Gedächtnis wie kein Filmzitat der letzten zwölf Monate. Und da habe ich noch nicht einmal erwähnt, dass Margit Bendokat im selben Stück eine Szene hat, in der sie die hundert häufigsten Wörter der deutschen Sprache hintereinanderweg aufsagt, als folgten sie einer unsichtbaren Liturgie des Verstehens, obwohl sie einfach nur ein zusammenhangloses Kauderwelsch ergeben – und das Publikum spontan Beifall klatscht wie für ein Kunststück im Zirkus. Das ist ein Moment, der im Kino so nicht zu haben ist, weil dort kaum Raum ist, der Sprache nachzuspüren und dem, was sie mit uns anstellt. Diese Selbstverständlichkeit kann für den, dem das Theater keine Gewohnheit ist, in so einem Moment ein ganz schönes Wunder sein: „Mach mal deine Augen zu!? Was siehst du?“

Wenn ich im Kino sitze, gibt es immer diesen Sog der Verwandlung, der mich im Dunkeln aus mir heraustreten lässt. Im Theater scheint das genau umgekehrt zu sein. Es sind die Schauspieler, die von der Sehnsucht nach Verwandlung getrieben sind, die es für uns übernehmen, aus sich herauszutreten. Das Theater ist ja schließlich auch eine viel bürgerlichere Kunstform und als solche eher dazu geneigt, den Exzess zu veräußerlichen. Es ist nicht so, dass die Männer auf der Bühne nicht auch Identifikationsangebote machten und die Frauen nicht auch zu erotischen Phantasien verlockten, aber wer sich aufrichtig prüft, wird feststellen, dass man sich als Zuschauer im Theater weniger gemeint fühlt. Weniger involviert. Weniger über den Tisch gezogen. Das Theater will mehr gelobt werden für die Arbeit, die es bedeutet, auf die Bühne hinauszugehen und vor Leuten eine wie auch immer geartete Maske aufzusetzen.

Wenn das jetzt so klingt, als wolle ich das dem Theater vorhalten, dann täuscht das. Ich will nur darauf hinaus, dass es genau diese Unterschiede waren, die mir einst den Zugang dazu verbaut haben, die mir heute jedoch als sein Kapital erscheinen. Vor die Leute hinzutreten und unter ihren Blicken diese Verwandlungen zu wagen scheint mir kaum vergleichbar mit der intimen Beziehung, die mit einer Kamera eingegangen wird. Und ich merke, wie mir die Theaterschauspieler deshalb in den letzten Monaten auf andere Weise im Kopf herumzuspuken begannen: als Leute, die diese Verwandlung, diese Entäußerung tagtäglich wagen, die sich fortwährend für ein sehr greifbares Publikum aufreiben und deren Arbeit man deshalb viel eher als ein ehrbares Handwerk begreift, dessen Gelingen Hingabe erfordert und Opferbereitschaft und einen Wahnsinn, von dem Kinoschauspieler oft nur träumen können.

Ich will jetzt nicht als Renegat dastehen, der plötzlich geringschätzt, was ihm sein Leben lang am nächsten war, aber so viel habe ich in diesen Monaten doch verstanden, dass diese Menschen auf der Bühne auf eine andere Weise einstehen für die Echtheit der Gefühle, die sie uns zu vermitteln versuchen.

Und vielleicht war der Moment, wo ich das am deutlichsten begriffen habe, jener, in dem ich mich dem Theater am fernsten fühlte. Eines Abends hatte nämlich Ulrich Khuon die Idee, mich nach einer Premiere hinter die Bühne zu bitten. Wahrscheinlich meinte er es nur gut mit mir und wollte dem Laien jenen Blick hinter die Kulissen erlauben, der ihm irgendetwas aufschließt von dem, was Theater bedeutet. Ich klopfte also an eine Türe – und fand mich unter Leuten, die nach monatelanger Arbeit eine Premiere hinter sich gebracht hatten. Eine gewisse Aufgekratztheit war zu spüren in der Art, wie alle aufeinander einredeten, aber auch eine große Müdigkeit. Und ich merkte schnell, dass ich in dieser Gemeinschaft nichts verloren hatte, als Kritiker schon gar nicht, und als ich zum Rauchen vor die Tür trat, stand ich zwischen den Schauspielern, die da auch rauchten und nichts so wenig brauchten wie jemanden, der nicht dazugehört.

Ich wanderte also weiter und landete auf der Bühne, auf die ich einen Abend lang gestarrt hatte – aber von der anderen Seite. Der eiserne Vorhang war heruntergelassen, und darin eingelassen ist eine Tür. Man macht sich keine Vorstellungen. Man sitzt da auf der anderen Seite, wartet, dass es losgeht, und wenn es so weit ist, dann lehnt man sich in der Gewissheit zurück, dass man nun für sein Geld etwas geboten bekommt. Wenn man aber hinter dem Vorhang steht, dann spürt man vor allem eine gewaltige Leere, in der sich nur jene Tür abzeichnet, hinter der etwas lauert, was sich Publikum nennt, aber einem wie ein vielköpfiges Ungeheuer vorkommen muss, das nur darauf wartet, einem den Kopf abzureißen. Ich schätze mal, dass Schauspieler auf Dauer ein anderes Verhältnis dazu entwickeln, wenn sie in diesem Beruf überleben wollen – dass sie an die Zähmung dieser Bestie glauben oder sie irgendwie ausblenden; aber als ich vor dieser Tür stand, wurde mir erst bewusst, was es bedeuten mag, nach wochenlangen Proben durch dieses Nadelöhr zu gehen, das Wille und Vorstellung von Illusion und Gelingen trennt. Das ist eben Theater, werden Sie denken. Mir war das neu. Wie schmal diese Öffnung ist, durch die man hindurchmuss, wenn man sich mit dem, was man kann, plötzlich dem stellen muss, was jeder zu erwarten dürfen glaubt.

Ich bin dann schnell wieder verschwunden von dieser Premierenfeier, aber der Gedanke an die Tür hat mich nicht verlassen. Man könnte nun sagen, welcher Aufwand sich hinter dem verbirgt, was man zu sehen bekommt, muss einen nicht interessieren. Monatelanges Nachdenken, wochenlanges Proben, Blut, Schweiß und Tränen, ein Berg, der kreißt – und heraus kommt womöglich eine Maus. So ist es nun mal, aber in diesem Moment vor der Tür schien es mir plötzlich mit Händen zu greifen, welche Arbeit jenem Zauber vorausgeht, jener Verwandlung, die man so selbstverständlich erwartet, wenn irgendwo einer auf die Bühne tritt.

All diese Dinge sollte ich vielleicht erwähnen, wenn ich sage, dass ich hundertsechzig Stücke gelesen habe, die alle getragen waren von dem unbedingten Bedürfnis, von Schauspielern auf einer Bühne gesprochen und zum Leben erweckt zu werden. Und meine Bedenken, ob ich mit meiner beschränkten Erfahrung diese Unbedingtheit auch erkennen würde, wenn ich ihr begegne, verflogen schnell, denn auch hier gilt: Ein gutes Buch ist ein gutes Buch ist ein gutes Buch. So wie ein Filmdrehbuch ein Wechsel auf eine ungewisse Zukunft ist, so ist auch jedes Stück nur ein Text, der ein Versprechen formuliert, das sich auf einer Bühne erfüllen muss. Und so konnte ich die Stücke nur als Texte lesen, die denselben Kriterien unterliegen wie jeder Text: If you want my interest, interest me. Ob man ein Theaterstück, Filmdrehbuch, einen Roman oder eine Kritik liest, ist letztlich egal: Wenn der Text gut ist, dann öffnet er beim Lesen einen imaginären Raum, in dem man sich jenes merkwürdige Ding vorstellen kann, das man Leben nennt. Und so habe ich vier Stücke ausgewählt, von denen ich glaube, dass dieser imaginäre Raum eine Bühne sein könnte: „In Neon“ von Julia Kandzora, „Süßer Vogel undsoweiter“ von Laura Naumann, „Sam“ von Katharina Schmitt und „Fabelhafte Familie Baader“ von Carsten Brandau.

Billy Wilder hat gesagt, drei Dinge brauche man für einen guten Film: ein gutes Buch, ein gutes Buch und ein gutes Buch. Ob er recht hat, wird sich auf diesen Autorentheatertagen weisen.

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