08. April 2010 | Deutsches Theater | Theater | Rede für Autorenteatertage (Original)

Zwanzig Minuten reine Ignoranz

Originaltext einer Rede über das Theater, gehalten als alleiniger Juror der Autorentheatertage 2010 am Deutschen Theater Berlin

Guten Abend, meine Damen und Herren,

wahrscheinlich erwarten Sie jetzt jemanden, der Bescheid weiß. Der wenigstens weiß, wovon er redet. Weil er hundertsechzig Stücke gelesen hat und etwas zum Stand des Autorentheaters sagen kann. Aber ganz ehrlich: Das Bescheidwissen ist ein wenig überschätzt. Nicht nur unter Kritikern. Aber bei denen auch. Wer heute irgendwo das Wort ergreift, kann sich halbe Sachen gar nicht leisten. Denn dann wirkt man gleich, als hätte man seine Hausaufgaben nicht gemacht. Als sei man sich seiner Sache nicht sicher. Als könne einem nicht über den Weg getraut werden.

Wäre. Würde. Könnte. Möchte. Hätte. Sollte.

So viel Ungefähres wirkt wirklich nicht gerade vertrauenserweckend. Aber genau darum geht es hier. Was übers Leben zu erfahren wäre, wenn man es in Frage stellt. Was man vom Theater lernen kann, wenn man keine Ahnung hat. Und wenigstens dafür kann ich einstehen: Ich habe vom Theater wirklich gar keine Ahnung. Jeder von Ihnen hier weiß vermutlich besser Bescheid. Das ist natürlich beschämend. Einerseits.

Anderseits ist es auch der größte Luxus, den man sich vorstellen kann. Auskunft geben zu müssen und sagen zu können: Ich weiß nicht. Gefragt zu werden und antworten zu dürfen: Könnte sein. Sie werden das jetzt vielleicht unmöglich finden, aber da müssen Sie durch: Zwanzig Minuten reine Ignoranz. Denn ich spreche zu Ihnen als jemand, der immer lieber ins Kino gegangen ist. Und der das glücklicherweise zum Beruf machen durfte und Filmkritiker geworden ist. Und glauben Sie nicht, dass das irgendwelche Auskünfte über das Theater erlaubt, weil es doch in beiden Fällen darum geht, dass man sich irgendwo hinsetzt und Leuten dabei zusieht, wie sie so tun als ob.

Ich hatte mit dem Theater tatsächlich noch nie etwas am Hut. Oder es ist mir zumindest auf eine Weise abhanden gekommen, dass ich ganz ungeniert seine lieben Gewohnheiten ignorieren kann. Will sagen, was ich übers Theater weiß, reicht nicht im Geringsten zu irgendeiner Art von Expertise. Ich weiß nicht, was sich in den letzten dreißig Jahren auf den Bühnen der Welt ereignet hat, und ich will auch gar nicht ausschließen, dass ich damit Wesentliches versäumt habe. Es ist nur einfach so, dass Theater nicht Teil meines Lebens war. Und wenn ich mich ihm hier und heute nähere, dann mag der Verweis auf meine Ignoranz fast schon hochmütig klingen, aber das Gegenteil ist der Fall: Ich bin voll von einer Demut, die mir bei meinen ersten Begegnungen mit dem Theater als Abiturient oder Student völlig fremd war. Fast könnte man es also Scham nennen, wenn ich nun das Wort ergreife inmitten von Leuten, denen das Theater immer schon so viel mehr bedeutet hat und ohne deren Zeugnis diese Kunst so nicht überlebt hätte. Denn was im Kino die Filmkopien oder die DVDs sind, das sind im Theater die Erinnerungen seiner Zuschauer. Und zu denen kann ich nichts beitragen.

Als mich Ulrich Khuon vergangenen Herbst fragte, ob ich mir vorstellen könne, den alleinigen Juror der Autorentheatertage zu geben, da half der Verweis auf meine Ignoranz seltsamerweise nichts. Und ich ließ mich zu der Aufgabe überreden, aus hundertsechzig Stücken vier auszuwählen, die dann inszeniert würden.

Vielleicht waren den Autorentheatertagen die Theaterkritiker ausgegangen, vielleicht versprach sich Khuon wirklich etwas von einem unbefangenen Blick – ich sagte jedenfalls zu und erkannte bald, dass ich schlecht aufholen konnte, was andere mir auf ewig voraus haben. Ich konnte mich einfach nur in das Abenteuer stürzen, mit dem, was ich habe: mit einer Unbefangenheit, die keine Erwartungen kannte und auf nichts Rücksicht nehmen musste.

Und dann aber mit etwas, womit ich nicht wirklich gerechnet hatte: einer Neugier auf das, was ich nicht kannte, und was sich mit jeder neuen Begegnung zu etwas auswuchs, was mir plausibel machte, was die Leute dem Kino zum Trotz ins Theater treibt. Ich fing plötzlich auch an, ins Theater zu gehen, und obwohl ich das anfangs eher pflichtbewusst tat, merkte ich bald, dass ich richtig gern hinging und darin ein Vergnügen fand, das ich nicht mehr am Kino maß, sondern als Erfahrung eigenen Rechts genoss.

Jeder, der immer schon ins Theater ging, wird darin nichts Besonderes erkennen, aber mir standen als Vergleich nur meine dreißig Jahre alten Abiturientenerfahrungen zur Verfügung, als ich im Theater immer nur erlebte, wie wenig es dem Kino entgegenzusetzen hatte. Oder besser: Wie selten es das, was es dem Kino entgegensetzen könnte, auch wirklich anwandte. Ich will nicht ausschließen, dass im München der frühen Achtziger genau das trotzdem stattfand, aber ich hatte einfach kein Auge dafür.

Ich erinnere mich an einen Auftritt von Michel Piccoli auf dem Theaterfestival in einem Koltès-Stück, das in einer Reithalle aufgeführt wurde, aber darin sah ich nur eine Verlängerung seiner Filmpräsenz in etwas, das mir kaum zugänglich war. Und ich weiß noch, dass Peter Lühr in einer Aufführung von Robert Wilson den Lear gab und dass ich ganz allgemein für Lührs Welterfahrenheit genauso empfänglich war wie für Wilsons Bilder, aber irgendwie haben diese Erlebnisse keine Neugier geweckt. Vielleicht, weil sie erkauft waren mit zu vielen Aufführungen, in denen ich immer dachte: Das kann das Kino besser.

Ich glaube noch nicht einmal, dass ich unrecht hatte. Aber ich weiß schon, dass mir dadurch einige unbezahlbare Erinnerungen verloren gegangen sind, von denen ich womöglich gelesen habe, die aber im Theater eben nichts wert sind, wenn man sie nicht erlebt hat. Man möge mir verzeihen, wenn ich eine Binsenweisheit benenne, aber der Umstand, dass dem Kino die Aura der Einmaligkeit durch VHS, DVD und Download vollends abhanden gekommen ist, führt schon auch dazu, dass man sich im Theater auf andere Weise angesprochen fühlt. Was man auf der Bühne sieht, kennt keinen anderen Adressaten als den im Moment anwesenden Zuschauer. Und deshalb prägen sich Momente auf andere Art der Erinnerung ein als im Kino, wo ich deren Wiederholbarkeit bereits mitdenke und sie auf der Festplatte namens Gehirn im selben Moment zum Löschen freigebe.

Wenn also in „Öl“ Susanne Wolff von hinten an Nina Hoss herantritt und ihr in einem seltsamen Singsang fast zärtlich befiehlt: „Mach mal deine Augen zu!“, dann verhakt sich dieser Tonfall, der sich aufs letzte Wort wie auf eine Frage versteift, so unauslöschlich im Gedächtnis wie kein Filmzitat der letzten zwölf Monate. Und da habe ich noch nicht einmal erwähnt, dass Margit Bendokat im selben Stück eine Szene hat, in der sie die hundert häufigsten Worte der deutschen Sprache hintereinander weg aufsagt, als folgten sie einer unsichtbaren Liturgie des Verstehens, obwohl sie einfach nur ein zusammenhangloses Kauderwelsch ergeben – und das Publikum spontan Beifall klatscht wie für ein Kunststück im Zirkus. Das ist ein Moment, der im Kino so nicht zu haben ist, weil dort kaum Raum ist, der Sprache nachzuspüren und dem, was sie mit uns anstellt.

Das wäre jetzt der Moment, wo man, wenn es ums Kino ginge, die entsprechende Szene einspielen könnte: Der, die, und, in, den, von, zu, das, mit, sich, des, auf, für, in, dem, nicht, ein, eine, als – so ähnlich geht das. Das hätten sie wahrscheinlich gern im Original gehört. Aber das ist eben nicht so einfach wiederholbar. Und diese Selbstverständlichkeit kann für den, dem das Theater keine Gewohnheit ist, ein ganz schönes Wunder sein: „Mach mal deine Augen zu!?“

Wenn ich im Kino sitze, gibt es immer diesen Sog der Verwandlung, der mich im Dunkeln aus mir heraustreten lässt. Im Theater scheint das genau umgekehrt zu sein. Es sind die Schauspieler, die von der Sehnsucht nach Verwandlung getrieben sind, die es für uns übernehmen, aus sich herauszutreten. Das Theater ist ja schließlich auch eine viel bürgerlichere Kunstform, und als solche eher dazu geneigt, den Exzess zu veräußerlichen. Es ist nicht so, dass die Männer auf der Bühne nicht auch Identifikationsangebote machten und die Frauen nicht auch zu erotischen Phantasien verlockten, aber wer sich aufrichtig prüft, wird feststellen, dass man sich als Zuschauer im Theater weniger gemeint fühlt. Weniger involviert. Weniger über den Tisch gezogen.

Das Theater will mehr gelobt werden für die Arbeit, die es bedeutet, auf die Bühne hinauszugehen und vor Leuten eine wie auch immer geartete Maske aufzusetzen.

Wenn das jetzt so klingt, als wolle ich das dem Theater vorhalten, dann täuscht das. Ich will nur darauf hinaus, dass es genau diese Unterschiede waren, die mir einst den Zugang dazu verbaut haben, die mir heute jedoch als sein Kapital erscheinen. Vor die Leute hinzutreten und unter ihren Blicken diese Verwandlungen zu wagen, scheint mir kaum zu vergleichen mit der intimen Beziehung, die mit einer Kamera eingegangen wird. Und ich merke, wie mir die Theaterschauspieler deshalb in den letzten Monaten auf andere Weise im Kopf herumzuspuken beginnen. Als Leute, die diese Verwandlung, diese Entäußerung tagtäglich wagen, die sich fortwährend für ein sehr greifbares Publikum aufreiben und deren Arbeit man deshalb viel eher als ein ehrbares Handwerk begreift, dessen Gelingen Hingabe erfordert und Opferbereitschaft und Wahnsinn, von dem Kinoschauspieler nur träumen können.

Ich will jetzt nicht als Renegat dastehen, der plötzlich geringschätzt, was ihm sein Leben lang am nächsten war, aber so viel habe ich diesen Monaten doch verstanden, dass diese Menschen auf der Bühne auf eine andere Weise einstehen für die Echtheit der Gefühle, die sie uns zu vermitteln versuchen.

Und vielleicht war der Moment, wo ich das am deutlichsten begriffen habe, jener, in dem ich mich dem Theater am fernsten fühlte. Eines Abends hatte nämlich Ulrich Khuon die Idee, mich nach einer Premiere hinter die Bühne zu bitten. Wahrscheinlich meinte er es nur gut mit mir und wollte dem Laien jenen Blick hinter die Kulissen erlauben, der ihm irgendetwas aufschließt von dem, was Theater bedeutet. Ich klopfte also an eine Türe – und fand mich unter Leuten, die nach monatelanger Arbeit eine Premiere hinter sich gebracht hatten.

Eine gewisse Aufgekratztheit war zu spüren in der Art, wie alle aufeinander einredeten, aber auch eine große Müdigkeit. Und ich merkte schnell, dass ich in dieser Gemeinschaft nichts verloren hatte – als Kritiker schon gar nicht -, und als ich zum Rauchen vor die Tür trat, stand ich zwischen den Schauspielern, die da auch rauchten und nichts so wenig brauchten wie jemanden, der nicht dazugehört. Ich wanderte also weiter und landete auf der Bühne, auf die ich einen Abend lang gestarrt hatte – aber von der anderen Seite. Der Eiserne Vorhang war heruntergelassen, und darin eingelassen ist eine Tür. Und ich sage ihnen: Man macht sich keine Vorstellungen. Man sitzt da auf der anderen Seite, wartet, dass es losgeht, und wenn es so weit ist, dann lehnt man sich in der Gewissheit zurück, dass man nun für sein Geld etwas geboten bekommt. Wenn man aber hinter dem Vorhang steht, dann spürt man vor allem eine gewaltige Leere, in der sich nur jene Tür abzeichnet, hinter der etwas lauert, was sich Publikum nennt, aber einem wie ein vielköpfiges Ungeheuer vorkommen muss, dass nur darauf wartet, einem den Kopf abzureißen. Ich schätze mal, dass Schauspieler auf Dauer ein anderes Verhältnis dazu entwickeln, wenn sie in diesem Beruf überleben wollen – dass sie an die Zähmung dieser Bestie glauben oder sie irgendwie ausblenden, aber als ich vor dieser Tür stand, wurde mir erst bewusst, was es bedeuten mag, nach wochenlangen Proben durch dieses Nadelöhr zu gehen, das Wille und Vorstellung von Illusion und Gelingen trennt.

Das ist eben Theater, werden sie denken. Mir war das neu. Wie schmal diese Öffnung ist, durch die man hindurch muss, wenn man sich mit dem, was man kann, plötzlich dem stellen muss, was jeder zu erwarten dürfen glaubt.

Ich bin dann schnell wieder verschwunden von dieser Premierenfeier, aber der Gedanke an die Tür hat mich nicht verlassen. Man könnte nun sagen, welcher Aufwand sich hinter dem verbirgt, was ich auf der Leinwand sehe, interessiert mich ja auch nur am Rande. Und das ist natürlich auch Ihr Recht im Theater.

Monatelanges Nachdenken, wochenlanges Proben, der ganze Apparat ist ein Berg, der kreist – und heraus kommt womöglich eine Maus. So ist es nun mal, und womöglich hebe ich das nur deswegen so hervor, weil ich sonst so leicht darüber hinwegsehe. Aber dann ist das eben der Luxus, den ich mir als Laie gönne – ganz naiv konstatieren zu dürfen, welche Arbeit jenem Zauber vorausgeht, jener Verwandlung, die man so selbstverständlich erwartet, wenn irgendwo einer auf die Bühne tritt.

All diese Dinge sollte ich vielleicht erwähnen, wenn ich sage, dass ich hundertsechzig Stücke gelesen habe, die alle getragen waren von dem unbedingten Bedürfnis, von Schauspielern auf einer Bühne gesprochen und zum Leben erweckt zu werden. Und meine Bedenken, ob ich mit meiner beschränkten Erfahrung diese Unbedingtheit auch erkennen würde, wenn ich ihr begegne, verflogen schnell, denn es gilt: Ein gutes Buch ist ein gutes Buch ist ein gutes Buch.

So wie ein Filmdrehbuch ein Wechsel auf eine ungewisse Zukunft ist, so ist auch jedes Stück nur ein Text, der ein Versprechen formuliert, der sich auf einer Bühne erfüllen muss. Und so konnte ich die Stücke nur als Texte lesen, die denselben Kriterien unterliegen wie jeder Text: If you want my interest, interest me. Ob man ein Theaterstück, Filmdrehbuch, einen Roman oder eine Kritik liest, ist letztlich egal: Wenn der Text gut ist, dann öffnet er beim Lesen einen imaginären Raum, in dem man sich jenes merkwürdige Ding vorstellen kann, das man Leben nennt. Und so habe ich vier Stücke ausgewählt, von denen ich glaube, dass dieser imaginäre Raum eine Bühne sein könnte.

Ich weiß schon, dass ich hier hart an der Themaverfehlung entlangschramme. Ich sollte ja eigentlich von meinen Leseerfahrungen berichten. Hundertsechzig Stücke, da muss sich doch etwas sagen lassen über das, was diese Leute umtreibt. Tja, das hätten sie jetzt gerne. Dass einer sagen kann, die jungen Stückschreiber bewegt die Krise, die Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit, die Klimakatastrophe. Sie suchen die Zweisamkeit, das Intime, das Private, die Hoffnung.

Können Sie vergessen. Hundertsechzig Stücke – und kein Befund. Im Gegenteil. Ich war überrascht von der Vielfalt der Themen, überwältigt von der Unterschiedlichkeit der Sprechweisen, aber irgendwie ist es auch müßig, über Stücke zu reden, die man dann doch nicht ausgewählt hat. Vier durfte ich auswählen, vier habe ich ausgewählt, und die können auch ganz gut für sich stehen. Ob sich in ihnen abbildet, was junge Stückeschreiber bewegt, durfte ich ja fröhlich ignorieren. Denn ich konnte gnadenlos danach gehen, ob sich in ihnen abbildet, was MICH bewegt. Was für ein unglaublicher Luxus das ist, wurde mir eigentlich eher hinterher bewusst. Einmal Theaterintendant zu sein und sagen zu dürfen: Liebes Deutsches Theater, diese vier Stücke interessieren mich aus Gründen, die nur mich etwas angehen. Jetzt inszeniert mal schön. Und das Deutsche Theater mit seinem ganzen Apparat setzt sich in Bewegung und tut genau das. Toll, oder?

Ganz so lief es natürlich nicht, aber fast. Ich war dann schon auch sehr froh, dass man meine Auswahl plausibel fand. Und natürlich traf ich meine Entscheidungen nicht ganz so egozentrisch, wie es jetzt klingt. Denn jedes Stück entwirft seine eigene Welt, und erstmal geht man ja danach, wie plausibel diese Welt und ihre Figuren sind, wie viel Überraschungen darin stecken, welcher Ton angeschlagen wird, wie stark das Bedürfnis ist, diese Worte umgesetzt zu sehen.

Und erst hinterher stellt man sich die Frage, wie viel diese Auswahl womöglich mit einem selbst zu tun hat. Oder wie viel das, was einen offenbar selbst interessiert, über die Auswahl aussagt. Und wenn man mal davon absieht, dass die vier Stücke so unterschiedlich sind, wie sie nur sein können, dann könnte man doch sagen, dass sie alle Biografie als ein Spiel begreifen, oder besser: dass in ihnen die Lebenszeit auf eine Weise angehalten scheint, dass die Bühne wie ein Brennglas erscheint, wo das, was man Biografie nennt, dann seziert werden kann. Vielleicht ist in einer Zeit, die mit den bruchlosen Biografien gründlich aufgeräumt hat, ja genau dies von Interesse. Was, wenn eine unbarmherzige Stimme aus dem Off plötzlich Fragen stellte, um die wir uns herumdrücken – wie in Julia Kanzoras „In Neon“? Was, wenn die Geschichte ganz anders verlaufen wäre – wie in Carsten Brandaus „Fabelhafter Familie Baader“? Was, wenn die Jugendlichen ihre Optionen schon so genau kennen, dass ihnen kaum mehr ein Ausweg bleibt – wie in Laura Naumanns „Süßer Vogel undsoweiter“? Was, wenn sich jemand ein Jahr in einen Käfig sperrt, um das Verhältnis von Leben und Zeit in Frage zu stellen –
wie in Katharina Schmitts „Sam“?

Aber da endet auch schon, was man vielleicht Gemeinsamkeit nennen könnte. Und es ist eben eher so, dass diese Stücke AUCH das Interesse des 47-jährigen Filmkritikers fesseln, der sich fragt, ob nicht alles anders sein könnte. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass das, was sie zu erzählen haben, uns alle angeht.

Mehr über diese Stücke zu sagen, scheint mir im Moment müßig, denn es würde nur einengen, was das Theater aus ihnen zu machen vermag.

Nur so viel: Ich wünsche mir, dass man bei Julia Kanzora die Nüsse knacken hört und den Staub wachsen sieht.

Dass man bei Laura Naumann spürt, wie quälend diese Ewigkeit sein kann, die das Jungsein vom Erwachsenwerden trennt, und sie aber doch der Ort ist, an dem die Sehnsüchte zu Hause sind.

Dass man bei Katharina Schmitt eine Vorstellung davon bekommt, was es bedeutet, sich ein Jahr freiwillig in einen Käfig zu sperren.

Und dass man bei Carsten Brandau versteht, dass die RAF mehr ist, als das Kino zuletzt zu träumen gewagt hat, obwohl er sich an ihr vergreift.

Vielleicht geht keiner dieser Wünsche in Erfüllung. Und trotzdem wird alles gut. Weil zwischen dem Wort und dem Spiel dann eben doch so viel mehr passiert, als sich meine Schulweisheit träumen lässt.

Billy Wilder hat gesagt, drei Dinge brauche man für einen guten Film: Ein gutes Buch, ein gutes Buch und ein gutes Buch. Ob er recht hat, wird sich auf diesen Autorentheatertagen weisen.

Das Tollste ist, dass meine Arbeit quasi in diesem Moment endet und dass sie nur den geringsten Teil dessen ausmacht, was am Ende, am 17. April, Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und wer sonst noch daraus machen. Die vier haben ein Versprechen formuliert, und ich hatte die beneidenswerte Aufgabe, sie beim Wort nehmen zu dürfen, das andere zum Leben erwecken müssen.

Dafür möchte ich Ulrich Khuon danken und John von Düffel, für ihr Vertrauen und das Gefühl, dass meine Ignoranz kein Makel ist – vor allem aber für die Entdeckung, dass es fürs Theater nie zu spät ist.

Der Applaus gehört aber Julia Kanzora, Laura Naumann, Katharina Schmitt und Carsten Brandau, die einem Filmkritiker, der den Theaterjuror gibt, die Wahl so leicht gemacht haben. Vielen Dank.

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